Wo Gewerkschafter schon Schulhefte und Stifte beschlagnahmen
Das war ein seltsamer Sommer. Nicht klimatisch natürlich, da war es wie immer: Halb Spanien verfiel hitzebedingt in eine Art Lethargie, die Arbeitswelt schaltete einen Gang herunter, und alle, die es sich noch leisten konnten, fuhren in die Ferien. So weit die eine Seite. Die andere Seite zeigt ein krisengeschütteltes Spanien, in dem die politischen Gegensätze immer heftiger aufeinander krachen. Nun wird sogar gegen die Monarchie demonstriert
Außergewöhnlich war der Sommer wegen des gehäuften Auftretens rechtsextremer NationalistInnen. Die hat es zwar schon immer gegeben: Alte, die dem Diktator Francisco Franco nachheulen und sich selbst gern «konservativ» nennen, und Junge, die glauben, dass «unter Franco alles besser gewesen» sei. Aber in den letzten Monaten zeigen sie sich vermehrt in der Öffentlichkeit: Da hängen Mitglieder der Jugendorganisation der regierenden rechtskonservativen Volkspartei Partido Popular (PP) in ihren Büros die verbotene franquistische Fahne auf, fotografieren sich mit ausgestrecktem rechtem Arm oder beklagen auf ihren Twitter-Accounts Francos Ableben, das bald 40 Jahre her ist.
FaschistInnen in Fahrt
Alles nur «Dummejungenstreiche», sagt die PP-Führung. Doch auch ältere FaschistInnen kaschieren immer weniger ihre Gesinnung. PP-Abgeordnete stehen mit ausgestrecktem Arm vor dem «Valle de los caídos» (Tal der Gefallenen), dem gigantischen faschistischen Mausoleum in der Nähe von Madrid. PP-Bürgermeister hängen während ihrer Stadtfeste tagelang die franquistische Flagge ans Rathaus, organisieren Wettbewerbe mit dem Namen «Cara al sol» («Gesicht zur Sonne», so hieß die Parteihymne der faschistischen Falange Española) oder lassen es zu, dass in der Stierkampfarena stundenlang ein riesiges Banner mit der Aufschrift «Adolf Hitler hatte recht» hängt.
Wen wundert es da, dass sich die PP-Jugend kaum im Zaum hält? Und auch mal gewalttätig wird, wie am 11. September, dem «Nationalfeiertag» Kataloniens. An diesem Tag demonstrierten über eine Million KatalanInnen mit einer 400 Kilometer langen Menschenkette für eine Abspaltung ihrer Region von Spanien. Immer mehr EinwohnerInnen des reichen Kataloniens sind davon überzeugt, dass es ihnen finanziell besser ginge, wenn sie sich nicht mehr am Ausgleichsfonds beteiligen und den armen Süden unterstützen müssten. In Madrid stürmte derweil ein Dutzend Neofaschisten eine katalanische Buchhandlung, pöbelte die Anwesenden an, rief Parolen wie «Katalonien ist Spanien» und «Viva España!» und warf danach Tränengasbomben in den Laden.
Der katalanische Protest hilft indirekt der momentan schwer unter Beschuss stehenden Regierung in Madrid: Sie kann damit von anderen Problemen ablenken, beispielsweise von den Korruptionsskandalen. Egal ob illegale Parteienfinanzierung, Steuerhinterziehung oder Geldwäsche – in alles ist der PP und sein früherer Schatzmeister Luis Bárcenas verstrickt. 20 Jahre lang hatte Bárcenas PP-Führungsmitgliedern (darunter auch Ministerpräsident Mariano Rajoy) monatlich Schwarzgelder aus Kassen zukommen lassen, die von Unternehmen gefüllt worden waren, die im Gegenzug öffentliche Aufträge erhielten. Außerdem schaffte Bárcenas bis zu 48 Millionen Euro «ungeklärter Herkunft» auf Konten im Ausland, vor allem in der Schweiz.
Bekannt wurde die Affäre bereits Anfang des Jahres, in den Sommermonaten verging jedoch kaum ein Tag, an dem nicht neue Informationen durchsickerten. So sah sich sogar der öffentlichkeitsscheue Rajoy schließlich gezwungen, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen: Seine Partei, sagte der Ministerpräsident, habe seit der Regierungsübernahme Ende 2011 keinerlei Beziehung zu Bárcenas gehabt. Zum Zeitpunkt seiner Rede war allerdings bereits bekannt, dass der Ex-Schatzmeister bis vor wenigen Monaten vom PP ein fünfstelliges Monatsgehalt erhalten hatte. Mit dieser Lüge habe der Skandal ein neues Niveau erreicht, urteilte danach die Vereinte Linke (IU) und kündigte für Oktober eine Großdemonstration an, die die Forderung nach Neuwahlen unterstreichen soll.
Korruption im Königshaus
Einen Rücktritt der Regierung verlangt auch die andalusische Gewerkschaft SAT. Ende August war die kämpferische SAT erneut in die Schlagzeilen gekommen, nachdem rund 200 Mitglieder ein Einkaufszentrum in Sevilla besucht, zwölf Einkaufswagen mit Schreibheften, Stiften und anderem Schulmaterial gefüllt, danach die Ware für «beschlagnahmt» erklärt und pünktlich zum Schulbeginn an mittellose Familien verteilt hatten. Derzeit bereitet die SAT mit Gewerkschaften und sozialen Gruppen aus anderen Regionen einen Sternmarsch auf Madrid vor.
Noch einen Schritt weiter geht die Empörten-Bewegung 15-M. Sie verlangt nicht nur einen Rücktritt der Regierung, sondern auch die Abschaffung der Monarchie. Am kommenden Samstag wird in Madrid zum ersten Mal überhaupt gegen Juan Carlos demonstriert. Der König habe, so die Indignados, keinerlei Legitimität, sei von Diktator Franco eingesetzt worden, lebe trotz Krise weiterhin in Saus und Braus und genieße zudem absolute Straffreiheit. Der letzte Punkt ist auch deswegen wichtig, weil nicht nur die Regierung im Korruptionssumpf versinkt, sondern auch das Königshaus. Über Jahre hinweg hatte Carlos’ Schwiegersohn Iñaki Urdangarín mithilfe seiner Frau Cristina (und vermutlich auch seines Schwiegervaters) öffentliche Gelder in Millionenhöhe veruntreut. Seine Frau konnte sich nach Genf absetzen. Auf den bemerkenswerten Sommer könnte ein eindrücklicher Herbst folgen.
Autorin: Dorothea Wuhrer/woz.ch