Zeit für ein Umdenken im deutschen Strafvollzug?

Die Corona-Epidemie hat das Land fest im Griff. Die behördlich verordnete Isolation, mit der die Infektionsrate gedrückt werden soll, belastete viele schneller und vor allem stärker, als sie sich das vorher vermutlich vorstellen konnten. Unser Autor hofft, dass diese schmerzliche Erfahrung jäh verlustig gegangener Freiheiten auch ein gesellschaftliches Nachdenken über den Umgang mit Strafgefangenen auslösen wird.

Kein Mitleid, aber Fürsprache

Gerade in diesen Tagen der Quarantäne merken viele Bundesbürger, was es bedeutet, einem Freiheitsentzug ausgesetzt zu sein. Die Inhaftierten in Deutschland sind oft Jahre und Jahrzehnte einer Isolation ausgesetzt, die vielen Menschen in unserem Land bereits nach wenigen Wochen im „Homeoffice“ zu viel zu werden droht. Am eigenen Leib zu spüren, wie eintönig der Alltag werden kann, ist eine Erfahrung, die möglicherweise auch zu mehr Sensibilität in der Betrachtung von Gefängnisinsassen und ihrem Stellenwert in unserer Republik führen kann.

Ich hatte gehofft, dass gerade die derzeitige Pandemie auch einen Fokus auf diejenigen Bevölkerungsteile legt, die in unserer Wahrnehmung eigentlich völlig ausgeblendet sind. Gerade das Empfinden eines Eingesperrtseins hätte nach meinem Dafürhalten zu endlich mehr Anteilnahme, Feinfühligkeit und Interesse am „Schicksal“ von Häftlingen beitragen sollen. Nein, es geht nicht um Mitleid mit Tätern, sondern um eine menschenwürdige Umgangsweise mit allen, die kaum eine Chance haben, ihre Stimme zu erheben.

„Aus den Augen, aus dem Sinn“?

Dabei spiegeln sich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit am Verhältnis von Politik und Bevölkerung gegenüber ihren Gefangenen eindrücklich wider, denn es ist das Spiegelbild, das sich Gesellschaft und Häftlinge einander vorhalten, welches zum Ausdruck bringt, ob wir unseren Artikel 1 der Verfassung tatsächlich für jedermann ernstnehmen. Denn allzu oft sind Strafgefangene derart stigmatisiert, dass sie auch nach ihrer Entlassung regelmäßig Anfeindungen und Vorurteilen ausgesetzt sind. Nicht selten leben sie dauerhaft in Isolation, der Gedanke zum Neustart findet sich lediglich im Bilderbuch.

Ich bin ohnehin davon überzeugt, dass der Justizvollzug von heute den Anforderungen an einen modernen Rechtsstaat nicht mehr entspricht, sondern viel zu oft der Gedanke des „Wegsperrens“ im Mittelpunkt steht. Denn unser Gemeinwesen möchte sich scheinbar nicht darauf einlassen, in langfristige und nachhaltige Resozialisierungsmaßnahmen zu investieren, sondern zahlt Unmengen an Geldern für die Unterbringung von Sträflingen, ohne jegliche Aussicht darauf, ob diese Menschen jemals wieder Teil unserer Zivilisation werden können. Man kann sagen: Der Ruf von Inhaftierten ist dauerhaft ruiniert, kaum jemand will sich mit ihnen beschäftigen, sie sind das „fünfte Rad am Wagen“, ihre Würde wankt.

Mehr Aufmerksamkeit für Gefangene, Personal und Ressourcen

So verkommen nicht nur in „Corona“-Zeiten unsere Gefängnisse zu Verwahrungsanstalten, in denen völlig überfordertes Personal mit den Konsequenzen einer gescheiterten Justizpolitik den Alltag bestreiten muss. Wir haben auf den ersten Blick zu wenige Haftplätze, was zu massenhafter Überbelebung und inakzeptablen Zuständen in den Gefängnissen führt. Auf den zweiten Blick müssen wir uns aber fragen, weshalb die Zahl der Häftlinge offensichtlich immer weiter steigt. Rechtspopulisten machen die „Ausländer“ dafür verantwortlich, die Gewalt nach Deutschland bringen. Andere wiederum sprechen davon, dass es vor allem die hemmungslose Jugend sei, die für den kräftigen Anstieg der Fallzahlen sorge.

Und Generalisten glauben, die Verrohung unserer Gemeinschaft führe zu deutlich mehr Straftaten. Doch so leicht machen kann man es sich nicht, will man seriös nach Antworten suchen. Vielmehr frage ich mich angesichts der Austrocknung der Personaldecke bei Gericht: Verurteilen wir heute schneller und leichter, weil auch unser Rechtswesen unter den massiven Auswüchsen immer neuer Hasskriminalität leidet, die Verfahren und Urteile unpräziser werden und im Zweifel die Freiheitsstrafe das einfachste Mittel ist, um sich eines Mitbürgers durch strenge Verurteilung zu entledigen? Nein, es wäre keine Alternative, die Samthandschuhe anzuziehen und in einen „Laissez-faire“-Stil überzugehen.

Visionen für Alternativen des „Einsperrens“

Was wir brauchen, das sind Vorbeugung und Aufklärung in verschiedenen Schichten unserer Bevölkerung, die Wiederherstellung sozialer Gerechtigkeit durch ein Überwinden rein kapitalistischer Verteilungspolitik, aber auch visionäre Vorschläge dafür, wie eine Alternative zum Strafvollzug der 2020er-Jahre aussehen kann. Wir sollten viel öfter versuchen, für Versöhnung einzutreten, wenngleich Schuld nicht ungesühnt bleiben darf. Dennoch halte ich es für dringend geboten, dass Verurteile, sofern sie keine unmittelbare Gefahr für die Außenwelt darstellen, so rasch wie möglich in Programmen zur Wiedereingliederung in die Menschheit die Chance auf ein neues Leben finden sollten – vor allem dann, wenn sie reuig sind und sich bei Bedarf einem Täter-Opfer-Ausgleich stellen.

Solange sich im Bereich des Justizvollzugs aber nichts ändern wird, müssen wir wenigstens auf Mindeststandards pochen: Dazu gehört ein neuer Personalschlüssel für die Gefängnisse, auf Wunsch einen Rechtsanspruch auf Einzelinhaftierung, Separierung gefährlicher Störer, Aufstockung psychischer und sozialer Therapie, Suizidprävention, mehr Zeit an der frischen Luft und deutlich steigende Kontaktzahlen mit aufsuchenden Angehörigen. Wenn man bedenkt, dass lediglich 1 Prozent der Verurteilten tatsächlich nicht resozialisierbar ist, so haben wir für die restlichen 99 Prozent einen politischen Auftrag, den wir hoffentlich in absehbarer Zeit in einer linksgeführten Regierung in diesem Land umsetzen können …

Dennis Riehle