„Über Nazis wird in Schulen immer noch zu wenig gesprochen“

Erinnerung an die Gräuel der Naziherrschaft, Mahnung zur Menschenwürde und Vorsicht vor neuerlichem Rechtsradikalismus: Das alles sind Gründe genug, um eine spannende Lesung in der Volkshochschule Konstanz zu besuchen und das Buch zu lesen, das Bernhard Selting vorstellen wird: „Betriebsausflug in die Gaskammer“. Ein denkwürdiger Abend zur „Euthanasie im Dritten Reich“

Sie sind Ingenieur, Herr Selting, und im Ruhestand. Wie kommt ein Mann mit solchem Lebenslauf dazu, ein derart politisches Buch zu schreiben?

Als ich 10 Jahre alt war, entdeckte ich im Bücherschrank meiner Eltern eine Werkszeitung vom 10.05.1940 mit der Todesanzeige meines Onkels Peter, eines Bruders meiner Mutter. Der tüchtige Konstrukteur sei zu früh durch eine Krankheit aus Ihren Reihen gerissen worden, hieß es da. Meine Mutter dazu: „Er war krank, aber er starb nicht an der Krankheit, sondern wurde ermordet.“ Sie glaubte, ihr Bruder sei im KZ Sachsenhausen umgebracht worden. Ich nahm mir vor, den Fall aufzuklären, doch erst nach meinem Ruhestand fand ich genügend Muße, um die schwierigen Recherchen anzugehen.

Sie erzählen in Ihrem Buch „Betriebsausflug in die Gaskammer“ die Geschichte Ihres Onkels Peter Verhaelen, der 1940 als „Volksschädling“ ermordet wurde. Denken Sie, dass solche Schicksale noch heute irgend jemanden interessieren?

Mein Onkel als Störenfried im angehenden “nationalsozialistischen Musterbetrieb“ wurde ein Opfer der Zwangssterilisierung und somit ein Anwärter auf die spätere Tötung. Als Hitler 2000 Betten für ein Marinelazarett benötigte, mussten die Insassen der Psychiatrie beseitigt werden. Diese unvorstellbaren Zusammenhänge erschüttern auch heute noch die Öffentlichkeit. Ein Arzt betätigte selbst den Gashahn – das muss jeden entrüsten. Nach Jahrzehnten des Schweigens will besonders die junge Generation wissen, was im Deutschland des Nationalsozialismus alles passiert ist.

Das ist Ihr erstes Buch. Und Sie haben es mehrfach auf Abendveranstaltungen, in Singen und Ravensburg, nun in Konstanz, vorgestellt. Was sind Ihre Erfahrungen mit Ihrem Publikum, Ihren Lesern?

Durch zahlreiche Gespräche im privaten Umfeld, z.B. im Bereich des Sports, habe ich festgestellt, dass man den von mir bearbeiteten Thema mit sehr viel Skepsis begegnet, wenn die Eltern der Gesprächspartner selbst mit dem Nationalsozialismus verbunden waren. Sie reagieren schweigend, wortkarg, oder gar ablehnend. Andere Bekannte, deren Eltern über Arbeitervereine, Arbeit im Bergwerk oder Stahlwerk oft unter dem Nazi-Regime in verschiedener Form gelitten haben, zeigten sich eher mitfühlend und bereit, über Schicksale in der eigenen Familie zu berichten.

Und die Jugend? Schülerinnen und Schüler? Wie reagieren die?

Die Generation der 68er ist zahlreich vertreten und erweist sich als gut informiert. Jüngere Leute in meinem Abendveranstaltungen oder in Schulen überraschen mich immer wieder mit vielen Fragen – ein Zeichen, dass in der Schule über die Gräueltaten der Nazis zu wenig berichtet wird.

Dürfen wir demnach Weiteres aus Ihrer Feder und zu diesem Thema erwarten?

Die Recherche – besonders das Studium des Archivmaterials über die Erbgesundheitsgerichte – hat mich selbst fast traumatisiert. Nach Fertigstellung des Buches bin ich noch ziemlich erschöpft. Trotzdem habe ich gerade einen Kurzvortrag vorbereitet für eine Tagung des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen “Euthanasie“ und Zwangssterilisation. Hierbei geht es um den Druck, den die Erbgesundheitsgerichte (von Hitler 1944 wieder abgeschafft) auf die Gesundheitsämter ausübten, um ihr “Leistungssoll“ an Sterilisierungen von Kranken oder unbequemen “Schädlingen im Volkskörper“ zu erreichen. Man sieht – das Thema hält mich noch gefangen. Aber wie auch gesagt – noch bin ich zu sehr erschöpft. An ein weiteres Buch denke ich darum derzeit eher nicht.

Autor: Hans-Peter Koch

Das Buch: „Betriebsausflug in die Gaskammer“, ISBN 978-3-9811121-2-2, www.mdsverlag.de

Die Lesung: Dienstag, 7.12., 19.30 Uhr, vhs, Katzgasse, Astoria-Saal; Veranstalter: vhs, VVN-BdA Konstanz-Singen.