„Viva Mussolini“ und die italienische Geschichte
Verstehen Sie eigentlich noch, was in Italien politisch abläuft? Wer da gerade an welcher Schraube dreht, wer wen schmiert, wer warum wie wählt und weshalb die Rechte trotz ihrer Skandale derart populär ist? Was Berlusconi so erfolgreich macht? Und wo die Linke geblieben ist? Wenn Ihnen da auch einiges unklar ist, dann lesen Sie diese zwei Bücher. Es kommen ja einige Tage zum Schmökern.
In der norditalienischen Stadt Reggio Emilia steht am Rande der Piazza della Vittoria ein kleines Denkmal. «Im Volkskampf gegen die autoritäre Restauration sind am 7. Juli 1960 auf diesem Platz fünf Antifaschisten gefallen», heißt es auf der in den Betonsockel eingelassenen Kupfertafel. Es folgen die Namen, darunter die von zwei ehemaligen Partisanen. Die fünf Männer waren von der Polizei erschossen worden, als sie – wie damals im Sommer 1960 Hunderttausende – gegen die Regierung des rechten christdemokratischen Ministerpräsidenten Fernando Tambroni protestierten. Diese hatte dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) gestattet, einen Parteitag ausgerechnet in Genua abzuhalten, damals eine antifaschistische Hochburg. In ganz Nord- und Mittelitalien – und teilweise sogar im konservativen Süden – kam es zu Demonstrationen, Kundgebungen und Streiks; der Parteitag wurde abgesagt.
Kein Problem mit dem «römischen Gruß»
Und heute? Heute können Abgeordnete von MSI-Nachfolgeorganisationen im Parlament herumpöbeln. Heute darf ein Kabinettsmitglied wie die Tourismusministerin Michela Vittoria Brambilla auf einer Carabinieriveranstaltung den rechten Arm zum faschistischen «römischen Gruß» recken – und kaum jemand fordert ihren Rücktritt. Heute haben zahlreiche Gemeinden Straßen, Plätze und Parks nach dem MSI-Gründer Giorgio Almirante benannt. Und Gianfranco Fini, Almirantes politischer Ziehsohn, der den faschistischen Diktator Benito Mussolini einmal den «größten Staatsmann des 20. Jahrhunderts» genannt hatte, gilt als demokratischer Hoffnungsträger, weil er sich von seinem langjährigen Partner Silvio Berlusconi getrennt hat.
Was ist da falsch gelaufen? Warum hat sich in Italien im Unterschied zu anderen europäischen Staaten, die nach dem Ende des Kalten Kriegs ihre Geschichte aufzuarbeiten begannen, ein Geschichtsrevisionismus entfalten können, der es auch bürgerlichen PolitikerInnen und Honoratioren erlaubt, die «guten Seiten» des italienischen Faschismus hervorzuheben, der einer Million Menschen das Leben gekostet hat? Und wieso darf Italiens Ministerpräsident Berlusconi behaupten, das «gutartige» Regime des «Duce» hätte niemanden ermordet, sondern nur ein paar Antifaschisten «in Urlaub» geschickt? Diese Fragen beantwortet der Luzerner Historiker und Faschismusforscher Aram Mattioli in seinem neuen, überaus informativen und mit vielen Quellen belegten Buch «Viva Mussolini!».
Faschismus als Betriebsunfall?
Mattioli schildert detailliert die «Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis» (so der Untertitel). Er beschreibt, wie sich unmittelbar nach dem Niedergang der Ersten Republik 1994 – die Skandale von Tagentopoli hatten das alten Parteiensystem und insbesondere die staatstragende Democrazia Cristiana zu Fall gebracht – das Rechtsbündns von Forza Italia, Lega Nord und der MSI-Nachfolgepartei Alleanza Nazionale daran machte, den italienischen Faschismus zu verharmlosen. Nüchtern und kenntnisreich zeigt er auf, dass schon in den achtziger Jahren die SozialistInnen um Bettino Craxi den damals noch vorhandenen antifaschistischen Grundkonsens aufbrachen. Und dass auch die KommunistInnen mit Schuld daran hatten, dass es in Italien nie zu einer Aufarbeitung der faschistischen Geschichte kam.
Denn es war der kommunistische Parteichef Palmiro Togliatti, der schon 1946 als Justizminister eine Generalamnestie erließ. Togliatti habe schon in seinem Moskauer Exil die Ansicht vertreten, so Mattioli, «dass es der Faschismus nicht vermocht habe, in die Seelen der Italiener einzudringen und diese zu korrumpieren, weil diese Diktatur im Widerspruch zu den tief verwurzelten Traditionen der italienischen Zivilisation stehe». Der Faschismus als Betriebsunfall?
Es waren natürlich nicht nur Naivität, Anpassung und Einfallslosigkeit, die die Politik der Kommunistischen Partei PCI nach dem Kriegsende prägten (sehr schön beschrieben von der ehemaligen Partisanin und linken Kommunistin Rossana Rossanda in ihrem Erinnerungsband «Die Tochter des 20. Jahrhunderts», Suhrkamp-Verlag, 2007). Auch taktische Erwägungen spielten bei Togliattis Amnestie eine Rolle: Die nach dem Krieg zutiefst gespaltene Bevölkerung sollte geeint werden.
«Der gute Onkel Mussolini»
Die Folgen waren verheerend. Denn plötzlich waren alle ItalienerInnen in der Resistenza gewesen, der Antifaschismus verkam zur Monstranz, der PartisanInnenkampf – bei dem Zehntausende ihr Leben verloren – wurde mythisch überhöht. Und konnte wie alle Mythen demontiert werden. Rechte PublizistInnen fanden heraus, was seriöse Historiker längst geschrieben hatten, die Linke aber nie wahrhaben wollte: Auch von Seiten der Resistanza war es zu Kriegsverbrechen gekommen. Es waren zwar nur wenige Fälle im Vergleich zu Mussolinis Massakern in Libyen, in Äthiopien, auf dem Balkan und im Spanischen Bürgerkrieg. Aber Berlusconis Medienmaschinerie griff jede Kritik an der Resistanza begierig auf, zermalmte die Erinnerung an den wahren Charakter des Faschismus («der gute Onkel Mussolini») und beförderte mit der Gleichsetzung von Faschismus und Antifaschismus die von der italienischen Bourgeoisie seit langem vertretene Ansicht, dass Mussolinis Diktatur nur ein historisch notwendiges Modernisierungsregime gewesen sei.
Italien ist seit jeher ein geteiltes Land
Dass sie das nie war, dass die «Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert» vor allem als eine Geschichte von Klassenkämpfen und politischen Auseinandersetzungen gelesen werden muss, zeigt das neue Buch des enorm faktenkundigen Historikers Hans Woller, dessen Recherchen auch Mattioli zitiert. In der wohl besten deutschsprachigen Zusammenfassung der italienischen Geschehnisse während der letzten hundert Jahre beschreibt Woller die Ursachen für die vielfältige Zerrissenheit des Landes. Seit der Staatsgründung 1861 ist Italien geteilt – in Nord und Süd, in arm und reich, in links und rechts.
Woller (fürwahr kein Linker) erläutert in seinen gut belegten Ausführungen, wieso es zu der bemerkenswerten Distanz zwischen Bevölkerung und Staat kam (die Haltung des Vatikans spielte eine erhebliche Rolle), weshalb die Industrialisierung so spät erfolgte, was deren Scheitern mit Berlusconis Aufstieg zu tun hatte – und dass die Politik der PCI nicht etwa von Moskau, sondern in Washington bestimmt wurde: Während der Blockkonfrontation des Kalten Kriegs drohten die USA wiederholt mit einer militärischen Intervention, sollten die BürgerInnen des Frontstaats Italien eine linke Regierung wählen.
Wer Zeit hat, sollte beide Bücher zur Hand nehmen. Und hat nach der Lektüre viel begriffen.
Autor: Pit Wuhrer/WOZ
Aram Mattioli: «Viva Mussolini! Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis». NZZ-libro. Zürich 2010. 202 Seiten. 38 Fr. Hans Woller: «Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert». C. H. Beck. München 2010. 2010. 480 Seiten. Fr. 56.90.