244 FreundInnen versichern mir auf Facebook, mich zu liken
Was hab ich davon? Seit 2004 Facebook online ging, haben die Begriffe «soziales Netzwerk» und «Privatsphäre» neue Bedeutung erhalten. Mittlerweile unterhalten auf der Plattform über eine Milliarde Menschen ein Konto. Sie posten, kommentieren, liken und chatten. Es gibt inzwischen eine Facebookwährung, eine Stellenbörse und andere kommerzielle Anwendungen. Firmen und Behörden, die etwas auf sich halten, präsentieren sich dort. Selbst seemoz ist da vertreten. Aber warum?
Als ich mich im Jahr 2010 anmeldete, Freundschaftsanfragen an reale FreundInnen zu versenden begann und Freundschaftsanfragen erhielt, hatten sich weltweit 350 Millionen Menschen auf Facebook angemeldet. Facebook war eine Plattform der Jugend – bis sich Alte wie ich reindrängten. Zunächst hatte Facebook für mich einen praktischen Nutzen und hat es immer noch: Hier erreiche ich meine drei Kinder, die nicht bei mir leben, mit großer Wahrscheinlichkeit – anders als per E-Mail oder Handy. Das gilt auch für die meisten meiner echten FreundInnen. Auch für ein Paar, das in der chinesischen Megacity Shenzhen lebt und arbeitet. In den knapp drei Jahren ist mein «Freundeskreis» freilich auf 244 angewachsen. Ich habe den Überblick verloren und weiß nicht, wer meine Aktivitäten verfolgt, was er oder sie denkt oder ob sie überhaupt zur Kenntnis nehmen, was ich dort tagtäglich treibe. Es sind jedenfalls nicht 244, die meine Beiträge liken, kommentieren oder mich im wirklichen Leben darauf ansprechen. Gut, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, kenne ich alle meine FacebookfreundInnen persönlich. Immerhin. Aber im wirklichen Leben sind längst nicht alle das, was ich unter einem Freund verstehe. Klar.
190 «Freunde» weist ein durchschnittlicher Facebooknutzer auf, hat die Universität Mailand herausgefunden. 150 soziale Beziehungen verkrafte das Hirn eines Menschen, behauptet der Anthropologe Robin Dunbar. Gemessen daran bin ich mit 244 «Freunden» überfordert. Einige meiner FreundInnen sind da deutlich schlechter dran – manche bringen es auf fast 700 «Freunde».
Im Laufe der Zeit glaube ich im Wesentlichen, zwei Typen unter meinen «Freunden» festgestellt zu haben: den Voyeur und den Selbstdarsteller. Ich gehöre eindeutig zu den Selbstdarstellern. Manchmal lasse ich mich zu tagebuchähnlichen Einträgen hinreißen, ich poste Ferienfotos, zufällige Handyschnappschüsse, ich kommentiere meine Zeitungslektüre, belästige meine «Freunde» mit knappen Buchrezensionen oder Zitaten und stelle hin und wieder im Zusammenhang mit einer Recherche eine Frage. Manchmal frage ich mich, ob ich zu viel preisgebe, ob das überhaupt jemanden interessiert, was ich da treibe? Immerhin – außer meinen «Freunden» gewähre ich niemandem Zutritt in diese Welt. Glaube ich zumindest. Denn ich bin mir nicht wirklich im Klaren darüber, wie viel Öffentlichkeit ich tatsächlich herstelle, wie weit sie reicht, was andere damit anstellen.
Manchmal liken oder kommentieren «Freunde» meine Beiträge, und ich freue mich, fühle mich wahrgenommen, obschon ich mutterseelenallein vor meinem Computer sitze. Ich hingegen like und kommentiere selten andere Beiträge und stöbere praktisch nie auf Facebookprofilen. Aber ein bisschen soziale Kontrolle übe auch ich zwangsläufig aus – die grünen Punkte neben dem Foto der «Freunde» geben mir einen Hinweis auf deren Präsenz – sie sind erreichbar.
An manchen Abenden bleibe ich in dieser Welt hängen. Und verlasse das Haus nicht mehr. Dann gebe ich mich der Illusion hin, ich sei mit der Welt meiner «Freunde» verbunden. Das kann, wie ich inzwischen gelernt habe, auch süchtig machen. Diese Sucht kann so weit gehen, dass FreundInnen und Familie in der realen Welt ignoriert werden. Gehören der letzte Blick vor dem Schlafengehen und der erste nach dem Aufstehen Facebook? Halte ichs mehr als einen Tag ohne Facebook aus? Hab ich schon mal gesagt: Ich facebooke dich später? Früher wäre ich nie auf die Idee gekommen, Freundschaften könnten süchtig machen. Vielleicht sollte ich mich wieder mal abmelden. So wie ein echter Freund von mir. Ich erreiche ihn trotzdem noch. Über ein anderes soziales Netzwerk, das in der virtuellen Welt nicht existiert.
Autor: Andreas Fagetti/WOZ
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