700 Menschen hörten Schami zu und staunten
Im „Milchwerk“ von Radolfzell kam es in der letzten Woche zu einer literarischen Reise mit dem syrischen Schriftsteller Rafik Schami. In global so verwirrenden Zeiten wie diesen scheinen auch die Erwachsenen eine Sehnsucht nach Märchen zu verspüren. Naturgemäß nicht solche, die allzu pädagogisch mit einem Zeigefinger aufwarten, sondern die in humorvollen Geschichten die Idee einer gerechteren Welt durchaus in orientalisch blumigen Facetten darbieten, ohne dabei kitschig zu wirken.
Rafik Schami, geboren 1946, spricht und schreibt fließendes Deutsch. An diesem Abend vollbringt er in seiner charmanten Wort-Kunst das Wunder, seinen neuesten Roman „Sophia oder Der Anfang aller Geschichten“ dergestalt bunt und bildreich vorzutragen, dass das Kopfkino der Anwesenden unentwegt auf Touren kommt. So bringt er seinen überaus aufmerksamen Zuhörern auch jene Welt näher, als Syrien noch nicht der irrsinnigen Zerstörungswut der aktuellen Stellvertreter-Krieger ausgeliefert war.
Dennoch schildert Schami keine heile Welt. Er erzählt von Gewalt, auch von Folter, von einem antiquierten aber zum Teil immer noch aktuellen brutalen Ehrbegriff, der einst die jeweilige Sippe zusammenschweißte, die Herrschaft der Männer zementierte. Insofern erfährt man an diesem Abend viel von historischen Gegebenheiten, die als fatales Fundament für den aktuellen Kriegs-Horror mit betrachtet werden müssen.
Die außerordentliche literarische Begabung des Rafik Schami liegt in seinem „Dennoch“: die feine Ironie, mit der er sich seinen verschiedensten Figuren und deren Irrtümern, Ängsten, Aggressionen, und ihrer Sehnsucht nach Anerkennung und ihrer Liebesfähigkeit nähert. Denn so macht er begreifbar, dass etwas überhaupt gar nicht zusammen passt: Humor und Selbstironie einerseits, und rigider Fanatismus andererseits. Entsprechend sinnenfroh, ja lustbetont trägt der Dichter die verschiedenen Episoden vor, und allmählich entspinnt sich ein eleganter, generationsübergreifender Erzählstrang.
Gestenreich entfaltet Schami auf der Bühne die prägenden Konflikte deutlich – Konflikte zwischen Männern und Frauen im Orient, die Konkurrenz zwischen Moslems und Sufis – und während er davon berichtet, scheinen seine Hände zu tanzen, ja der ganze charmante Mann ist fortwährend in Bewegung, dass es eine Freude ist, ihm zuzuschauen. Und so wirkte dieser Abend auf lebendige Weise auch ein bisschen beruhigend, weil die Ratio und die Sinnlichkeit in der anhaltend beunruhigenden Gesamtlage dennoch ihren humanen Stellenwert unbedingt behalten dürfen. Außerdem: Wenn Frauen und Männer weltweit GEMEINSAM lachen können, dann ist doch schon viel gewonnen!
Marianne Bäumler
„Sophia oder Der Anfang aller Geschichten“, Carl Hanser Verlag, 480 S., 24, 90 €