Bilderbuch-Zwang an Weihnachten
Die Innenstadt ist hell erleuchtet, vom Weihnachtsmarkt dringt fröhliche Musik in alle Ecken, auf der Arbeit, an der Universität, in der Schule – überall wird deutlich: Es ist Weihnachten, die scheinbar schönste Zeit des Jahres. Und mit der Vorfreude auf das Fest beginnt die Suche nach Geschenken, das Kaufen von Weihnachtsbäumen, Lichterketten oder weihnachtlichem Punsch und Plätzchen. Das Ziel? Ein bilderbuchartiger Abend mit der ganzen Familie, an dem alle voller Glück strahlen. Ein Kommentar zu Weihnachten.
Trotz steigender Energie- und Lebensunterhaltskosten ist das Weihnachtsgeschäft auch in diesem Jahr in vollem Gange. Dies bestätigt auch der Handelsverband Deutschland (HDE) in seinen wöchentlichen Analysen des Weihnachtskonsums 2022. Viele Unternehmen bauen genau darauf, denn das Weihnachtsgeschäft hat einen erheblichen Anteil am Jahresgeschäft, je nach Branche zwischen 19 und 27 Prozent.
Konsum an Weihnachten
Der HDE errechnet, dass etwa ein Viertel des Jahresumsatzes in zahlreichen Branchen im Weihnachtsgeschäft entsteht. Für das Jahr 2022 prognostiziert der HDE im November und Dezember einen Umsatz von 120,3 Milliarden Euro. Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) setzt pro Kopf durchschnittlich Ausgaben von 299€ für Geschenke an.
Kaufen, weil gekauft werden muss
Bei derart erheblichen Geldausgaben und -einnahmen drängt sich die Frage auf: Warum? Warum geben Menschen jährlich Geld aus, dass sie vielleicht gar nicht unbedingt in Hülle und Fülle haben?
Die Antwort ist simpel: Dafür, wie Weihnachten gefeiert wird, gibt es ganz klare soziale Richtlinien. Dazu gehört auf der einen Seite das Zusammenkommen der gesamten Familie am reichlich gedeckten Tisch und mit strahlenden Gesichtern. Auf der anderen Seite ist aber vor allem ein Aspekt zentral: Konsumbereitschaft. Es sollen ein Weihnachtsbaum gekauft, das Haus oder die Wohnung geschmückt und reichlich Essen und Trinken gekauft werden. Und am wichtigsten: Jede Person im Umfeld muss beschenkt werden, alles andere gilt als unhöflich, undankbar oder unaufmerksam. Diese Normen sind über die Jahre erwachsen und werden zunehmend normalisiert. In Filmen, Werbeanzeigen, Büchern oder Erzählungen wird das Narrativ immer und immer wieder wiederholt, bis alles abseits davon nicht existent zu sein scheint. Zumindest für diejenigen, die sich die Normdarstellung von Weihnachten leisten können.
Worüber an Weihnachten nicht gesprochen wird
Das bedeutet nicht, dass Konsum und Geschenke per se etwas Schlechtes sind. Aber nur deshalb zu kaufen und zu schenken, weil es erwartet wird, muss deutlich kritisiert werden. Insgesamt ist diese konsum- und familienorientierte Darstellung von Weihnachten sehr einseitig und lässt zahlreiche Menschen, deren Realitäten sowie Schicksale außer Acht. Doch genau das wird mitsamt sämtlichen anderen Problemen in dieser Zeit unter den Teppich gekehrt. Dabei verursacht genau dieses Untersichtbarmachen von Menschen, die kein Bilderbuch-Weihnachten leben können oder wollen, noch mehr Druck und Ausgrenzung.
Menschen ohne Bezugspersonen oder Familie werden allein gelassen und Obdachlose der Kälte ausgesetzt. Personen, die sich den Weihnachtskonsum nicht leisten können, werden noch mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt, als es Geringverdienende ohnehin schon werden. Menschen mit psychischen Einschränkungen werden in dieser Zeit verstärkt mit ihren Erfahrungen konfrontiert, weil der Druck, glücklich zu sein, in der „schönsten Zeit des Jahres“ stärker denn je ist.
All diese Beispiele und noch viele andere Realitäten werden an Weihnachten schlichtweg ausgeblendet und unsichtbar gemacht. Sie dürfen nicht existieren, damit der Schein des strahlenden Fests gewahrt werden kann. Das darf so nicht weitergehen. Es gilt, die sozialen Normen, die mit Weihnachten verbunden sind, endlich zu durchbrechen.
Wie denn dann?
Weihnachten gilt als das Fest der Liebe. Wieso wird diese Liebe also nicht auf alle Menschen und deren Realitäten ausgeweitet? Und vor allem: Warum wird diese Liebe nur im zwanghaften Rahmen eines Festes weitergegeben?
Schenken ohne zwanghaften, materiellen Charakter kann so berührend, und Zeit mit den Liebsten zu verbringen, so bereichernd sein. Aber all das ist am schönsten, wenn es ungezwungen und aus dem Herzen heraus passiert. Es gilt, Hand in Hand mit Rücksichtnahme, Empathie und Solidarität gemeinsam eine Zeit zu gestalten, in der alle ohne Ausgrenzung oder Diskriminierung miteinander leben können. Dieses Narrativ sollte nicht künstlich einmal im Jahr unter Ausblendung zahlreicher Perspektiven hergestellt werden, sondern von Herzen kommen.
Vielleicht gibt es dieses Weihnachten also weniger Geschenke, weniger Zwang und weniger Konsum, dafür aber das Versprechen, gemeinsam Tag für Tag daran zu arbeiten, allen Perspektiven Raum zu geben.
An Weihnachten, aber vor allem auch darüber hinaus.
Text und Bild: Connie Lutz