Alle Macht dem Wort

„WortMachtWort“: Ein feiner Titel für ein feines Heft. Die neue Ausgabe des Jahreshefts „Mauerläufer“ handelt von der Macht des Wortes. Und sie spricht ein Machtwort gegen die allgegenwärtige Seichtheit des Wortes, die nicht nur den weit verstandenen Bodenseeraum besetzt hat. Aus ihm spricht der „Mauerläufer“ mit farbigem Wort und Bild – wie der kleiberartige Vogel, der erst im Flug sein prächtiges, rot-weißes Gefieder herzeigt.

Zum fünften Mal seit 2014 tun dies die sechs Herausgeber, unter ihnen Eva Hocke aus Bad Saulgau, Jochen Kelter aus Ermatingen, Hanspeter Wieland aus Überlingen. Das Motto ist geblieben: Regional – radikal – randständig; letzteres mit ironischem Bezug auf den Südrand Deutschlands und den Nordostrand der Schweiz. Er mag für einige Autoren nur noch nostalgischer Bezugspunkt sein: für den in den USA lehrenden Germanisten Peter Blickle oder den Dornbirner Wolfgang Bleier, den es nach Wien verschlagen hat. Oder den unermüdlichen Birwinker Stefan Keller, der auch von Zürich aus als Journalist und Historiker über das rote Arbon schreiben oder alte Thurgauer Postkarten sammeln kann.

Die Wörter beim Wort nehmen

Und der Titel des Heftes sticht gar mitten in die Schweiz. Christoph Rütimann, nach Müllheim ausgewanderter Luzerner, stand 2004 auf einem Felsen hoch über Altdorf, Körper und Anzug in einen Pfeilbogen eingespannt, ein Schild mit den Worten «tell me» um den Hals. Er ist ein Künstler, der die Wörter beim Wort nimmt: mit „Hängen am Museum“ in Trauer um das Luzerner Kunstmuseum, das dem KKL weichen musste, oder mit „Der grosse Schlaf“ vor einer Beige roter Büchsen und Schachteln im Kulturzentrum Seedamm Pfäffikon. Im fünften „Mauerläufer“ ist Christoph Rütimann mit weiteren Arbeiten zu sehen: mit den knorrigen „Kulturkeulen“, mit dem Siebdruck „denk mal so“ oder der Wortinstallation „passe port part tout“.

Seine Partnerin Zsuzsanna Gahse präsentiert mit „Drei Skizzen“ Auszüge aus einem größeren Projekt. Sie nimmt in ihrer Prosa die Sprache beim Wort, spielt mit Wörtern, geht ihnen auf den Grund. Von unserer Fähigkeit zu sprechen aus („Die Sprache hat nur der Mensch“) schwenkt sie auf die Kommunikation von Delphinen und Walen dann hinüber zur Körpersprache. Sie ist überzeugt, dass auch Gesten Sprache enthalten und dass ein Laut wie „st“ in stocken, stumm, stur „sozusagen eine Geste im Mund“ ist. Herrlich zu lesen sind die Haken, die Zsuzsanna Gahse auf nur vier Seiten schlägt.

„Das Wort, das lehrt und leitet“

Die Phrase „sozusagen eine Geste im Mund“ leiht dem ersten der fünf Buchkapitel den Namen. Sie heißen nach irgendeiner Textstelle – eine witzige Idee der Herausgeber, die zum Lesen anregen soll, aber keinen tieferen Sinn zu haben braucht: „Nur das Echo galoppiert noch im Raum“, „Blockbuchstaben und Ausrufezeichen“, „Ein hässliches Quietschen bei scharfen Wendungen“, „Ein Bussard fror im Gedächtnis ein“.

Ivo Ledergerber, Lyriker und Verleger in St. Gallen, ist als Textgeber vertreten. Der argentinische Komponist Francisco Obieta hat zweimal Texte von ihm verwendet: 2015 im Jan-Hus-Oratorium „Verbrennt das Feuer!“, ein Jahr darauf im „Steiner Requiem“. Drei Stellen aus dem Oratorium zitiert der „Mauerläufer“, darunter die Zeilen „Das Wort zuerst / das macht den Priester / die Predigt / Ornat nicht und nicht Ritual / das Wort das zeigt / das Wort das mahnt / das lehrt und leitet“.

Etwas leichter geht Christoph Elias Meier aus Zürich mit dem gewichtigen Wort um. So beginnt er: „Im Anfang bin ich ein Wort. Auf meinem Rücken lebt alles. Auch Amseln, andere Lagunen und Zitrusbäume. […] Es geschieht dein Wille.“ So schließt er: „Es gibt nichts Schlimmeres für Worte, als wenn sie zu Exoten gemacht werden“.

Kirschen und Bauernbriefe aus dem Bernbiet

Der „Mauerläufer“ ist ebenso ein Lesebuch wie ein Schaubuch. Die Gestalterin Eva Hocke hat erneut die Bilder ausgewählt, wenn auch etwas gar viele ihrer eigenen Fotografien darunter sind. Gar bunt kommt das Jahrbuch daher, und die oft wechselnden Textschriften tragen nicht zur Ruhe bei. Vier zarte Foliencollagen des Thurgauers Conrad Steiner fallen auf. Oder die Text- und Fotocollagen des Deutschen Roland Albrecht aus seinem Museum der unerhörten Dinge. Sie sind eher skurril angelegt, anders als die historischen Postkarten oder Fotografien aus der Sammlung Stefan Kellers.

Rührend liest sich seine „Kirschenpost“ aus dem Kriegsjahr 1917: „Als die junge Frau in die Ostschweiz geheiratet hatte, erhielt sie von ihren Brüdern regelmässig Post. Es waren Nachrichten aus dem Bernbiet, Bauernbriefe, die von der Arbeit erzählten. Wenn immer möglich wurde etwas Essbares mitgeschickt. ‹Möchten Euch hier noch einmal ein Körbli Kirschen senden›, heisst es einmal, ‹tut uns leid, dass es nicht mehr sind, aber wir sind gegenwärtig in einer misslichen Lage […]›.“ Am Ende schreibt Keller über die Frau: „Sie kochte ein, füllte Einmachgläser für manchen Winter. Die Körbe schickte sie schnell zurück, voll bis zum Rand mit Lindenblüten, obendrauf lagen Briefe, die heute verloren sind“.

Hommage an die Kartause Ittingen

Severin Schwendener aus Märstetten ist Krimiautor. Er hat das Motto des vorliegenden „Mauerläufers“ am wörtlichsten genommen. Sein Kurztext „WortMachtSpiele“ erzählt von einem Wort, das ein Mönch vor Jahrhunderten zu Papier gebracht und in einem Buch seiner Bibliothek versteckt hat. Ein Mann entdeckt das Wort, es wandert in die digitale Welt – und soll gelöscht werden, weil keiner es versteht. Erst eine Studentin findet das Buch wieder und kennt nun auch den Titel ihrer Dissertation: „Wird das Wort zur Macht oder macht die Macht das Wort?“

Dieter Langhart (der Text erschien zuerst im St. Galler Tagblatt)

Mauerläufer, Edition Mauerläufer 2018, 185 Seiten, Fr. 14.– Bezug: mauerlaeufer.org und Buchhandel

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