American Spirit

In den 1920er Jahren erwachten manche Komponisten der europäischen Kunstmusik („Klassik“) auch politisch – und schrieben neben Avantgardemusik und Dada-Stücken auch Agitprop-Werke. Viele dieser Künstler sind heute vergessen: Die Nazis vertrieben oder ermordeten sie, und das bundes­republikanische Publikum zeigte später wenig Neigung, sie wieder zur Kenntnis zu nehmen. Das Philharmonie-Konzert „American Spirit“ am nächsten Sonntag ist daher auch ein wenig Wiedergutmachung.

So manche bedeutenden Neutöner des letzten Jahrhunderts haben es nicht in den Kanon des Konzertbetriebs geschafft, und das hat nicht zuletzt außermusikalische Gründe, wie man beim Anhören ihrer Werke unschwer versteht. Einer dieser Meister ist der Berliner Stefan Wolpe, der ein denkbar vielfältiges musikalisches Erbe hinterlassen hat, aber bis heute weitgehend unbekannt geblieben ist, in Deutschland noch stärker als in den USA.

Die Avantgarde war rot

In Wolpes (1902-1972) Lebenswerk bündeln sich die zentralen Entwicklungslinien der Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wolpe hat 1929 Kurt Schwitters‘ „An Anna Blume“ für Klavier und Musical Clown vertont und sich damit am musikalischen Dada versucht. Als überzeugter Kommunist war er Autor von Agitprop-Liedern und wirkte im Brecht-Umfeld. Er übernahm die musikalische Leitung der „Truppe 1931“, eines Theaterensembles, dessen bekannteste Stücke „Die Mausefalle“, „Da liegt der Hund begraben“ und „Wer ist der Dümmste“ hießen und das sich politisch weit links positionierte.

Wolpe hat sich aber auch als durchaus talentierter Maler versucht und unterhielt Kontakte zum Bauhaus sowie zu den Berliner Avantgardekreisen. Er lernte bei Paul Klee, studierte bei Ferruccio Busoni und Anton Webern, er war Nachbar von Ernst Busch wie von Ernst Bloch. [1] Kurzum: Er war ein vielseitig begabter Mensch, der für alles Neue offen war. Dass er an die Kraft der künstlerischen Avantgarde, einzelne Menschen oder sogar ganze Gesellschaften zu verändern, glaubte, mag rückblickend allerdings als ziemlich naiv erscheinen.

Ein Berliner in Amerika

Natürlich floh der Komponist bereits 1933 aus Deutschland, so naiv war er denn doch nicht. Er verkörperte, was die Nazis hassten und bevorzugt totschlugen: Kommunist, Komponist moderner Musik – und Jude. Auf dem Umweg über Palästina gelangte er 1938 in die USA, wo er bis zu seinem Lebensende blieb; ein Lebensweg, dessen letzte Jahrzehnte an die des Schriftstellers Oskar Maria Graf erinnern, der ebenfalls in den USA residierte und wenige Jahre vor Wolpe in New York starb. Dass Wolpe und seine Werke nach 1945 in Deutschland nicht (wieder) Fuß fassen konnten, hatte durchaus System: „Infolge der organisierten Vergesslichkeit, die nach der ‚Stunde Null‘ in der Bundesrepublik ihren Gang nahm, haben wir lange nichts über diese Musik erfahren.“ [2]

Im Konzert am Sonntag wird das Philharmonische Kammerorchester für Neue Musik der Südwestdeutschen Philharmonie unter der Leitung des Dirigenten Franz Lang ein gewichtiges Werk aufführen: Das Chamber Piece No.1 von 1964 nimmt nicht nur im Titel auf Schönbergs wegweisende Kammersymphonie Nr.1 von 1906 Bezug. Wenn Wolpe schreibt, er wolle hier „beim Erfinden musikalischer Strukturen Ökonomie walten lassen“ [3], so erinnert das nicht zufällig an Schönbergs Bemerkung über seine eigene Musik um 1910 herum: „Aber die charakteristischsten Merkmale dieser Stücke waren ihre äußerste Ausdrucksstärke und ihre außerordentliche Kürze.“ [4]

Amerikanische Neutöner

Wenn das Kammerorchester der Südwestdeutschen Philharmonie den deutschen Exilanten Wolpe in ein Programm mit US-amerikanischer Musik aufnimmt, ist das natürlich nicht falsch. Aber man muss bei praktisch aller avancierten amerikanischen Kunstmusik die Erfahrungen mit der Musik der Zweiten Wiener Schule um Schönberg mitdenken. Dadurch, dass Schönberg in die USA auswanderte und dort erfolgreich lehrte, war dies für manche gar eine Erfahrung aus erster Hand. Schönberg ist einfach die Sonne mit den weitaus meisten Planeten am musikalischen Firmament des 20. Jahrhunderts.

Selbst das Enfant terrible der amerikanischen neuen Musik, John Cage (1912-1992), war Anfang der dreißiger Jahre in den USA für zwei Jahre Schönbergs Schüler und, so wird kolportiert, da er Schönbergs Unterricht nicht mit Geld bezahlen konnte, zugleich auch Schönbergs Gärtner. Wenn Cage tatsächlich die Art von Schüler war, die zu sein er behauptete, ist denkbar, dass Schönberg ihn tatsächlich mochte. Cage schreibt: „Ich war immer der festen Überzeugung, dass man alles, was der Lehrer sagt, für bare Münze nehmen sollte. Solange Du an den Lehrer glaubst, sollst Du nichts, was er sagt, infrage stellen.“[5]

Von Cage, 1981 übrigens Gründungspräsident der Stefan Wolpe Society, stammt ein weiteres Highlight des Konzertes am Sonntag: „Credo in Us“ aus dem Sommer 1942, nach Cages Angaben eine „Suite satirischen Charakters“, die bald nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor entstand und für eine Tanzperformance geschrieben wurde. Sie atmet echten American Spirit: Die Besetzungsliste umfasst unter anderem ein Radio (nicht Marke Volksempfänger!) sowie einen Plattenspieler, und es verwendet Musik anderer Komponisten – welche, können die Interpreten selbst bestimmen. Man darf also durchaus gespannt sein, wofür man sich am Sonntag entscheidet.

Weitere Werke des kurzweiligen Programms stammen von John Adams und Elliott Carter. Letzterer war ein echter Methusalix der Neuen Musik. Er schrieb Dutzende Werke noch nach seinem 90. Geburtstag, und als er 2012 mit annähernd 104 Jahren starb, war mit seinem Tod das letzte Kapitel des von Charles Ives begonnenen Great American Songbook der klassischen Avantgarde abgeschlossen.

MM, Harald Borges (Foto: John Cage 1988, Fotograf Rob Bogaerts, ©Public Domain. Quelle: Nationaal Archief, Den Haag)

Konzert: Sonntag, 28.5., 19 Uhr im Festsaal des Inselhotels Konstanz
Karten: 18, ermäßigt 14 €; Karten sind bei der Südwestdeutschen Philharmonie (9.00 Uhr bis 12.30 Uhr, Telefon 07531 900-816), dem Stadttheater Konstanz (07531 900-150), bei der Tourist-Information am Hauptbahnhof sowie allen Ortsverwaltungen erhältlich. Tickets können auch im Internet gekauft und ausgedruckt werden: www.philharmonie-konstanz.de


Anmerkungen:
[1] Brigid Cohen, Stefan Wolpe and the Avant-Garde Diaspora, Cambridge 2012.
[2] Thomas Phleps: Stefan Wolpe – Eine Einführung: http://www.staff.uni-giessen.de/~g51092/wolpeeinfuehrung.html
[3] Zitiert nach Austin Clarksons Booklet-Text zur CD-Einspielung dieses und anderer Wolpe-Werke mit dem NDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Johannes Kalitzke von 1996.
[4] Arnold Schönberg, Komposition mit zwölf Tönen, in ders.: Stil und Gedanke, Leipzig 1989, S. 149.
[5] http://www.wolpe.org/page10/page10.html#John%20Cage