Aufstehn, Chemo, kotzen, schlafen
Wie sieht die Welt für einen 14-Jährigen aus, der an Krebs erkrankt ist? Am Stadttheater Konstanz gelingt es Regisseur Sascha Flocke, mit Comics, Livemusik und einer authentischen Spielweise Antworten zu geben auf harte Fragen, ohne dabei belehrend zu wirken. „Superhero“ ist für Jugendliche ab 14 Jahren gedacht. Denn es ist ja schon hart genug, vierzehn Jahre alt zu sein. So zumindest sieht es Donald Delpe, der Protagonist in „Superhero“.
Sein Problem: Sex. Und der ist überall. Zum Beispiel das zehn Meter große Unterwäschemodel von H&M, das Donald überall hin verfolgt. Oder die Videos im Internet, am liebsten FSK 18. Sex ist sein ständiger Begleiter, aber nur theoretisch. Donald kennt ihn nämlich nur vom Bildschirm und Hochglanzbildern. Echte Brüste hat er noch nie gesehen, geschweige denn berührt. Im Gegensatz zu seinen Kumpels. Der eine rühmt sich mit einer heißen Affaire mit dem Aupair-Mädchen, der andere mit einem Quicky bei Burgerking auf der Toilette – ist doch easy, macht doch jeder. Oder?
Naja, Donald nicht. Kein Grund zur Verzweiflung, könnte man meinen, der Junge hat ja schließlich noch Zeit. Aber hier liegt Donalds zweites Problem: Die hat er nicht, er kämpft nämlich mit einer Krebsdiagnose und es sieht nicht gut aus. Donald fühlt sich im Laufe seiner Chemotherapie wie „in der Mikrowelle aufgewärmte Kacke“.
Zwischendurch auf der Kippe
Schauplatz ist also eine Krebsstation für Kinder. Ein trostloser Ort, aus dem es für Donald nur einen Ausweg gibt: die Fantasie. Er zeichnet Comics, erfindet eine Welt, in der sich sein Dilemma auf einer anderen Ebene entfaltet. Donalds Held ist Miracleman. Er kämpft gegen das Böse in Form eines wahnsinnigen Arztes und seiner Gehilfin und erlebt nebenbei eine Liebesgeschichte, die vor Romantik nur so knallt.
Bevor die Liebe Einzug hält, vergnügt sich Miracleman aber mit toten Frauen am Friedhof. Unter anderem ein Grund, warum die Eltern von Donald einen Psychiater einschalten, der ihnen und ihrem Sohn helfen soll. Das tut er, wenn auch mit fragwürdigem Engagement. Als Donald ihm offenbart, dass es seine größte Angst ist, als Jungfrau zu sterben, organisiert der Psychiater zunächst einen Ausflug zum Aktzeichenkurs, echte Brüste gucken, und on top noch eine Prostituierte, echte Brüste anfassen.
Für einen Moment gerät das Stück hier ins Schwanken. Was soll denn bitte die Botschaft für das minderjährige Publikum sein? Pornographie ist okay, schaut ja jeder, und die Liebe in der Realität ist schon etwas komplizierter. Aber hey! Auch in der Wirklichkeit lässt sie sich konsumieren, man kann eine Frau kaufen, alles kein Problem? Und die Fragwürdigkeit dieser Szene steigert sich, da sowohl die Mutter Donalds als auch die Prostituierte von Katrin Huke dargestellt werden. Ein bisschen ödipale Verwirrung also auch noch.
Doch schon bevor man sich echauffieren kann, was das für ein Frauenbild ist und was hier gelernt werden soll, kommt die Auflösung im Stück: Donald nimmt den Dienst der Prostituierten nicht in Anspruch, sondern nutzt den unbeobachteten Moment, um mit seiner heimlichen Liebe Shelly wahre Romantik und ein echtes, aufrichtiges erstes Mal zu erleben. Die Botschaft ist also, dass man für die Liebe kämpfen muss, und wenn man sich das traut, bekommt man etwas, das besser ist als erträumt. Alles gut also.
Im Irgendwo zwischen Porno und Romantik
Donald entwickelt seine romantischen Fantasien rund um Shelly ebenso wie seine Idee, was Liebe sein könnte: „13 bis 15 Mal am Tag würde sie ihre Beine um mich schlingen, die mich wie Engelsflügel umarmen“, so Donald, der von Arlen Konietz meisterhaft dargestellt wird. Ihm nimmt man jede emotionale Station auf seiner Berg- und Talfahrt ab. Im ersten Date mit Shelly, die ebenso hervorragend von Laura Lippmann interpretiert wird, legen die beiden eine Peinlichkeit an den Tag, die dem Zuschauer selbst feuchte Handflächen bereitet. Und die Erkenntnis, wie gut es doch ist, diese Zeit hinter sich zu haben.
Nicht so die Schulklasse, die im Zuschauerraum sitzt. Für sie ist das Dargestellte keine Retrospektive, sondern das Jetzt. Ab und an begleitet ein hysterisches Kichern die Inszenierung, die die Welt jener beschreibt, die zwischen Kindheit und Erwachsensein gefangen sind, weder vor noch zurück können. Die erste Joints ebenso konsumieren wie Pornographie. Die cool sein wollen, nein, müssen, um zu überleben. Dieser Welt nähert sich das Stück mit Mitteln, die den Jugendlichen vertraut sind: deren Bilder, Musik und Sprache.
Mit Comics gegen die harte Realität
Durch die Comicebene gelingt neben der Flucht aus der tragischen Realität der Chemostation auch die Reflexion des Innenlebens eines 14-Jährigen abseits seiner Krankheit. Diese wird in das Stück per Videosequenzen eingespielt – ein Medium, das im Theater oft mehr gewollt als gekonnt eingesetzt wird. Doch das ist hier definitiv nicht der Fall. Die kunstvollen Comicszenen von Jens Dreske sind so platziert, dass sie der Story eine zweite Ebene geben und somit ablenken vom Desaster des nahenden Todes. Die Krankheit wird damit aufgebrochen, ebenso wie die Erzählweise, die zwischen Wut und Wehmut pendelt.
Ohne diese Ausbrüche wäre die Thematik auch kaum auszuhalten. Eltern am Rande der Verzweiflung, ein Psychiater, der nicht weiter weiß, und alle kreisen um diesen jungen Menschen, der tut, was nicht sein darf: sterben. Er wird die Welt außerhalb der logischen Reihenfolge verlassen. Das ist unfair, Schicksal, warum?
Begleitet werden diese Fragen mit Musik der Band „Redensart“, die in OP-Kitteln am Rande der Bühne spielt und sich musikalisch irgendwo zwischen Tocotronic und einem David Lynch-Soundtrack bewegt. Von traurigen Tönen über wütendes Geschredder bis hin zu einer Interpretation von „Wicked Game“ gibt die Musik den Emotionen Donalds Gestalt und begleitet ihn als Mitleidende auf der Krebsstation.
Gesprochen wird, wie Jugendliche es tun. Zu Anfang wirkt das ein bisschen befremdlich, als würde man dem Palaver einer Clique im Bus lauschen, die sich über Pornos unterhält; doch mehr und mehr gewinnt das Stück gerade damit an Authentizität.“Superhero“ ist sehenswert nicht nur für Jugendliche, denn es ist, in den Worten meines Sitznachbarn: „Echt cool.“
PS: Das Beste zum Schluss – die Schuhe des Drummers.
Veronika Fischer/Foto: Ilja Mess (der Text erschien zuerst auf www.saiten.ch)
Nächste Vorstellungen: 20., 21., 27. Dezember