Beschissen im Konsum
Bis Freitag ist im Konstanzer Bürgersaal noch das Gemälde „CAIN (sie scheißen auf uns)“ zu sehen. Es stammt vom Singener Künstler Felix Droese und steht im Mittelpunkt der Seminar- und Veranstaltungsreihe „Ab heute anders! Von schlechten Gegebenen und den Möglichkeiten, es zu ändern“. Der Beuys-Schüler Droese verknüpft in seinem komplexen Werk viele Themen unserer Zeit – die Ungerechtigkeit, das Gefängnis des Konsums, die Macht der Finanzmärkte. Wo sich welche Botschaft versteckt, erläutert Albert Kümmel-Schnur, der Initiator der Ausstellung. Schließlich sieht man nur, was man weiß.
Arès: Ich scheiß auf die Wahrheit. Die macht niemanden satt.
Boris: Und auf die Freiheit und die Gerechtigkeit scheißt Du auch?
Arès: Ja, ich bin mehr für das Geld.
(Dialog aus dem Film „Arès“ von Jean-Patrick Benes, Frankreich 2016)
Wer den Bildtitel hört, weiß sofort, worum es geht – das Gefühl, dass es „denen“ egal ist, einfach und buchstäblich „scheißegal“, was „wir“ tun, wie es „uns“ geht, wovon „wir“ träumen, was „wir“ brauchen. Der Bildtitel öffnet sofort eine hierarchische Dichotomie von „sie“ und „uns“: Zwei Gruppen, die nichts miteinander zu tun haben. Die einen kacken dahin, wo es ihnen eben passt,vornehmlich auf die anderen. Und wer immer dieses Bild anschaut, wird automatisch inkludiert in die Opfergruppe – „sie“ – das sind schließlich immer die anderen. Wer genau, wissen wir nicht, nur wenn „sie“ auf „uns“ scheißen können, dann müssen „sie“ wohl oben und „wir“ wohl unten, genauer, darunter sitzen, hocken oder liegen. Der Satz „Sie scheißen auf uns“ benennt eine verbreitete Emotion, die uns für gewöhnlich in sozialen – „dem Vermieter ist es scheißegal, ob ich die Mieterhöhung noch zahlen kann“ – oder politischen – „unser Schicksal interessiert die Profipolitiker gar nicht“ – Kontexten befällt. Sie artikuliert immer ein Empfinden von Ohnmacht: Daran kann man gar nichts tun, das ist eben so, die machen mit mir/uns, was sie wollen, der Deibel scheißt immer auf den dicksten Haufen.
Der Teufel, ja, oder eben Gott. Den Satz „sie scheißen auf uns“ hat Felix Droese in Klammern hinter den Haupttitel des Bildes gesetzt und der heißt: Cain. Diese Figur kennen wir, und wir kennen auch ihr Problem: Gott scheißt auf sein Opfer. Zur Erinnerung: der Bauer Kain ist, dem biblischen Buch Genesis zufolge, der Erstgeborene des aus dem Paradies vertriebenen ersten Menschenpaars Adam und Eva. Er hat einen Bruder, den Hirten Abel. Beide opfern Gott von den Früchten ihrer Arbeit: „Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.“ (1. Mose 4, 3-5) Wie geht es Kain damit? Scheiße, um bei Droeses Begrifflichkeit zu bleiben. Es geht ihm einfach scheiße: „Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.“ (1. Mose 4, 5) Und das kann man gut verstehen. Die Bibel gibt keinen Grund an, warum Gott Abel Kain gegenüber bevorzugt. Theologen sehen darin vor allem einen Hinweis darauf, dass sich die aus dem Paradies vertriebene Menschheit ihres Gottes nicht mehr sicher sein können. Deshalb müssen sie – im Gegensatz zu ihren Eltern im Paradies – Opfer bringen und deshalb sind sie angewiesen auf die Anerkennung durch Gott. So fühlt sich das Leben in postparadiesischer Gottesferne an. Es geht demnach also nicht um Neid oder Geschwisterstreit, sondern um die tief empfundene Ungerechtigkeit der ungleichen Behandlung durch Gott. Und Gott ratifiziert diese Interpretation durch die Aufforderung an Kain, der Versuchung, seinem zorningen Impuls nachzugeben, zu widerstehen.
Droeses Bild aber kennt keinen Gott. Es zeigt eine aufrechte dunkle Gestalt, die auf eine vor ihm liegende oder kniende Figur einschlägt. Und sie zeigt am oberen Bildrand insgesamt fünf Ärsche in gelb, grün, rot und schwarz, die auf beide Gestalten rotgefärbten flüssigen Stuhl kacken. Das ist also schon die erste Irritation. Über Kain und Abel steht nicht eine außerweltliche zusätzliche Gestalt, die das Schicksal der beiden bestimmt, sondern da hocken einfach andere Menschen, reduziert auf ihre Tätigkeit, reduziert, so könnte man auch sagen, auf das, was die beiden unter ihnen sich Befindlichen buchstäblich trifft. Kains Gefühl, so könnte man in erster Annäherung auch sagen, könnte auch Abels Gefühl sein: Der hockt ja mit seinem Bruder in der Scheiße.
Aber, wie uns nicht erst der Philosoph Hans Jonas lehren musste: Nur weil zwei dasselbe Schicksal erleiden, heißt es noch lange nicht, dass sie miteinander solidarisch sein müssten. Im Gegenteil: Die stehende schwarze Figur hält die rote am Arm fest, drückt sie zu Boden und schlägt auf sie ein. Die rote Figur scheint sich an einen mit dünnem grauen Strich links neben ihr platzierten Einkaufswagen zu klammern. Oder fällt sie vor diesem Einkaufswagen nieder? Ist der Einkaufswagen der Altar, auf dem Abel sein Opfer darbringt? Abels Geste scheint das zu belegen. Er scheint den Wagen zu greifen, mit seinem Kopf hineinzufallen wie in ein Gefängnis, kniet im gleichen Gestus auch davor und wirft sich nieder. Wird er dafür erschlagen? Dafür, dass er dem Konsum huldigt? Wenig wahrscheinlich. Oder doch? Das hieße, dass der Konsum an Gottes Stelle getreten wäre und für diese Interpretation gibt es, so scheint es, keinen Anhalt im Bild. Was jedoch auffällt ist, dass die Ärsche am oberen Bildrand demjenigen Abels verdammt ähnlich sehen, das gilt auch für den extravagant zugespitzten Fuß. Abel träte also buchstäblich zweimal im Bild auf: als Opfer und als Täter. Kain hingegen gibt es nur einmal.
Schaut man sich die Figur des Kain genau an, fällt auf, dass sie im ersten Druckvorgang – wir haben es bei diesem Bild mit einer Mischtechnik zu tun, die zentralen figurativen Elemente sind monumentale Holzschnitte – die nämliche rote Farbe verwendet wurde wie für Abel. Beide Figuren waren also eine Einheit, das kann man besonders deutlich noch am linken Oberschenkel Kains erkennen, der aus dem Liegenden herauszuwachsen scheint. Kain und Abel – das waren, so könnte man sagen, mal exakt dieselben, aus demselben Holz (was für den Druckstock des Holzschnitts buchstäblich gilt), derselben Farbe, Zwillingsbrüder vielleicht, einander gleichend wie ein Ei dem anderen. Aber dann scheint irgendeine Veränderung mit Kain vorgefallen zu sein: aus Rot wurde Schwarz. Das wäre ja auch eine ganz klassische Interpretation der Kain-und-Abel-Geschichte und, mehr noch, ihrer Rezeptionsgeschichte: Kain wird böse, während Abel zum Inbegriff des Guten stilisiert wird.
Man könnte aus die Ähnlichkeit der Figuren und den farblich markierten Übergang der einen in die andere allerdings auch prozesshaft als Verwandlung deuten: Abel wird zu Kain. Es handelt sich gar nicht um zwei Figuren, sondern um eine einzige in zwei Stadien: Der Verehrer des Konsums wird sich selbst zum Feind und will sich in einem autoaggressiven Akt selbst vernichten. Und all die anderen zufriedenen Konsumenten scheißen diesem aus dem System Gefallenen auf den Kopf.
Vielleicht hilft es, sich den 1511 entstandenen Holzschnitt Albrecht Dürers anzusehen, den Felix Droeses Holzschnitt interpretiert. Mit einem Blick erkennt man die Situation, die spiegelverkehrt bei Droese erscheint. Abel liegt, bereits am Kopf getroffen, schreiend auf dem Boden. Kain kniet in überdeutlich akzentuierter Muskulatur mit grimmig verzerrter Miene über ihm und schwingt ein gewaltiges Beil, das Dürer, wie häufig in den Bildbesprechungen vermerkt wird, dadurch noch zusätzlich betont, dass die untere Spitze der Klinge einen Teil der prominent gesetzten Signatur Dürers verdeckt. Dürer greift den dramatischen Höhepunkt der Geschichte auf: den Mord. Sein Holzschnitt nimmt diesem Mord den narrativen Kontext: von den Opfergaben der beiden ist ebensowenig zu sehen wie von Gott im Himmel. Eine unbestimmt karge Landschaft, die durch einen einzelnen Baum im rechten oberen Drittel des Bildes begrenzt wird, bestimmt die Szenerie. Die Brüder sind beide nackt – Kain trägt noch einen minimalistischen Schurz, einen Tanga würden wir heute sagen, der sein Gemächt eher hervorhebt denn verdeckt. Aus Abels Kopfwunde spritzt das Blut in zwei langen dünnen Rinnsalen.
Albrecht Dürers Kain und Abel
Ebenso wie die Gemeinsamkeiten sind auch die Veränderungen deutlich, die Droese dem Dürer’schen Holzschnitt zugefügt hat: den Figuren fehlt die Binnenzeichnung, dadurch geht vor allem die dramatische Mimik und die dynamisierenden Schattierungslinien verloren, das Bild wird stiller. Die ganze Ausdruckskraft wandert in die Silhouette der Körperhaltung. Droese hat Kain deutlich gestreckt und ihm den kleinen Schurz genommen, betont hängt sein Penis über dem liegenden Abel. Am wichtigsten ist jedoch vielleicht das Fehlen der Mordwaffe. Die gehobene Hand Kains ist blockhaft verdichtet, man könnte sie ebenso als geballte Faust wie als erhobenen Stein deuten. Gleichzeitig erinnert die schematisierte erhobene Faust auch an den klassischen Gruß der Arbeiterbewegungen seit dem 19. Jahrhundert – eine Dimension die dem für seine Arbeit im Vietnamkomitee der Düsseldorfer Kunstakademie 1972 zu sieben Monaten Haft verurteilten Künstler sicherlich deutlich bewusst war. Kains erhobene Faust mag eine Mörderhand sein, sie ist jedoch gleichermaßen ein Zeichen des Protests. Doch wogegen eigentlich? Gegen sich selbst als fremdbestimmten Konsumhörigen, wie wir eben vermutet haben?
Aus Abels Schädel fließt kein Blut. Dünne rote Farbrinnsale laufen aber über die Bildfläche, man könnte fast vermuten, die Blutströme Abels hätten von Dürer zu Droese ihren körperlichen Ort gewechselt vom Kopf zum Anus. Sollte man diese Deutung für legitim halten, folgte daraus, das Kains Handlung genau jenen blutigen Stuhl hervorbrächten, der ihn selbst wiederum besudelt. Das Mal, mit dem Gott Kain zu seinem Schutz kennzeichnet, wäre zu Abels blutigem Stuhl geworden, der seinen Mörder markiert. „Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge […]“ (1. Mose 4, 15) Und bliebe man bei der Deutung des Bildes als einer aggressiven Selbstzerrissenheit, dann wäre das Elend des Kain, des einen, der sich aus der Kette des Konsums gelöst hätte, dass das gar nicht geht. Die Abel’sche Scheiße von oben wirkt – in der Logik der Überlagerung von biblischer Erzählung und Droese’schem Bild – als Immunisierung gegen Protest. Aus dem Gefängnis des Konsums und der Hörigkeit gibt es kein Entkommen.
Dagegen scheint zu sprechen, dass die Rußpigmente, aus denen der Druck der Kainfigur bei Droese zum größten Teil bestehen, gar nichts annehmen von der darüberlaufenden dünnen Acryl- oder Ölfarbe. Deutlicher sind die anderen Spuren, die sich über das Bild ziehen. Kain tritt aus einem gelb und schwarz umgrenzten Kreis heraus, dieser Kreis ist wie große Teile des unteren Bildabschnittes auch mit braunen Farbspuren aus Kuhmist bedeckt. Droese verwendet Kuhscheiße, um den Ort zu charakterisieren, aus dem Kain sich erhebt. Woraus erhebt er sich eigentlich (sehen wir mal von der Möglichkeit ab, es handele sich um einen dantesken Höllenkreis – da gibt es ja sogar den nach Kain benannten, den Verrätern an Verwandten gewidmeten Höllenkreis Caina, in dem man bis zum Hals schockgefroren wird, und andererseits einen, der bis oben mit Kot gefüllt ist)?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns den Bildelementen widmen, die wir noch nicht besprochen haben: Kain befindet sich in einem Doppelkreis in der Mitte des Bildes, rechts und links von ihm befindet sich eine 10. Der Schlüssel zu dieser Anordnung sind die zwei schwarzen Rechtecke am rechten unteren Bildrand. In ihnen ist der Schriftzug „GELD“ zu lesen – wie den Druckstock der Kain und Abel-Gruppe hat Droese auch den Druckstock des Geld-Schriftzugs häufiger genutzt, damit etwa Fotografien von Kirchen, aus Pornomagazinen oder Katalogen der eigenen Werke bedruckt. Man könnte das ganze Bild als Geldschein begreifen. Der 1-Dollar-Schein etwa ist so aufgebaut: in der Mitte ein kreisrund gerahmtes Porträt von George Washington, rechts und links der Zahlwert. Wir hätten es also mit einem etwas zerfransten, also oft benutzten Geldschein zu tun. Der Dollarschein bietet auch noch den schönen Glaubenssatz „In God we trust“ an, was einerseits als Realsatire angesichts der Eskapaden jener Glücksspieler, die heute für gewöhnlich „internationale Finanzmärkte“ betitelt werden, erscheint und andererseits eben jenen nachparadiesischen Zustand, in dem man auf Gott vertrauen muss, weil man sich seiner eben nicht mehr sicher sein kann, artikuliert. Auf Gott vertrauen – das eben war Kains wie Abels Hoffnung beim Opfern. Am rechten Bildrand ist eine Tafel nur über einen schmalen Steg mit dem restlichen Bild verbunden – sie könnte vielleicht deshalb als kommentierende Ergänzung des restlichen Bildes gedeutet werden, worauf auch die Doppelung des schwarz gefärbten Arsches hindeutet. Dieser Arsch scheißt, ebenso wie sein Pendant im Hauptteil des Bildes in einer gewaltigen Wolke aus Kuhdung Geld. Droeses Bild assoziiert hier also eine Figur, die der deutschen Rechtsprechung und dem deutschen Märchen seit dem Mittelalter vertraut ist: den Dukatenscheisser.
Die Hosen runter lassen
Vielleicht war jemand von Ihnen schon einmal in Goslar im Harz. Dort befindet sich an der Fassade des ehemaligen Gildenhauses der Wandschneider, Goslars reichster und vornehmster Kaufmanns-Vereinigung, ein nacktes Männlein, das dem Betrachter seine Rückseite zuwendet. Aus seinem Hintern fallen Golddukaten auf einen Haufen, der mindestens soviel Kot wie Gold enthält. Grad wie bei Droese also. Die Goslarer Wandschneider traten nach der Flucht der Goslaer Juden im Jahr 1414 ins Geldgeschäft ein und exekutierten die Schuldnerbestrafung so symbolisch wie unmittelbar unter dem Dukatenscheisser. Dort war nämlich ein Sitz angebracht, auf den derjenige, der seine Schulden nicht zahlen konnte, mit entblößtem Arsch gesetzt wurde. Das nannte man dann „bottarschen“. „Der Brauch des ,Bottarschens’ hat sich im Sprachgebrauch bis in die heutige Zeit halten können: Bei einem Offenbarungseid muss man bis heute ,die Hosen runterlassen’.“ Spätere Banken verstanden den tieferen Sinn des Dukatenscheissers nicht mehr, wie das Relief eines Dukaten scheissenden, aber bis auf die heruntergelassene Hose bekleideten Männchens an der Fassade einer Düsseldorfer Bank überdeutlich zeigt. Dort steht: „Dies Märchen wird wohl niemals wahr / das Leben lehrt / sei klug und spar.“
Was folgt aus dieser letzten Beobachtung nun für eine Interpretation des Droese-Bildes? Der Dukatenscheisser ist nicht der, der Geld hat, sondern der, dem’s aus dem Leib oder deutlicher, dem Darm, gepresst wird – ein armer Schlucker, eine arme Sau, die buchstäblich nichts mehr hat, für dieses Nichts auch noch in der Schuld steht und öffentlich gedemütigt wird. So löst sich vielleicht das Zeichenrätsel, das uns Felix Droeses Bild aufgibt: Wir alle scheißen braun und blutrot und rußfarbenes Geld (übrigens auch so ein alchimistischer Fingerzeig Droeses: Der erste Stuhl eines Neugeborenen, das klebrige, tiefschwarze Kindspech wurde von den Alchimisten als wesentliche Substanz fürs Goldmachen erachtet). Der Rahmen in der Bildmitte zeigt, was dabei herauskommt: eben ein Topf oder Höllenpfuhl voller Scheiße – wenn man genau hinsieht, dann zeigen sich im Braun des mittleren Medallions schemenhaft Gesichter – lauter Verdammte, buchstäblich arme, bettelarme Seelen. Wir scheißen, weil wir einer Praxis uns unterwerfen, die wir quasigöttlich verehren – dem im Einkaufswagen verkörperten Konsum. Und sehen dabei nicht, dass wir niemand anderen als uns selbst bescheissen – auch ein durchaus ökonomischer Ausdruck.
Hat man das mal begriffen, dann regt sich der heilige Zorn – aus Abel wird Kain, der die Faust zum Protest erhebt und doch damit nur sich selber trifft. Übrigens eine Deutung, die durchaus zusammengeht mit der biblischen Geschichte, wenn man sich, wie’s bei einem Pfarrerssohn ja durchaus sein kann, damit etwas genauer auskennt: der Name Kain nämlich bedeutet im Hebräischen „Selbstgeschaffen“. Eva rühmt sich damit, eine Schöpfung hervorgebracht zu haben, die – so deutet es die biblische Sprachverwendung an – derjenigen Gottes gleichwertig ist. Und Kain, der Bauer, lebt sesshaft von den Früchten dessen, was er selbst dem Boden abringt. Eben das missfällt Gott: Abel, auf hebräisch soviel wie Windhauch, beugt sich als Hirte hingegen der flüchtigen Existenzweise, die ihnen der strafende Genesisgott zugewiesen hat: er beansprucht keinen festen Platz, sondern ist – herdengetrieben – ruhelos. Eben deshalb, seiner Beugsamkeit unters göttliche Gebot wegen, ist sein Opfer dem göttlichen Auge wohlgefällig. Alle anderen jedoch müssen, ich schwenke wieder zu Droese, Kain werden, zwanghaft verschickt in die Ruhelosigkeit, markiert wie ein Stück Vieh – glaube ich den Theologen, die mir sagen, dass das Kainsmal eben keine Straftätowierung ist, sondern eine Besitzmarkierung: Den rührt mir nicht an, der ist mein.
Felix Droese hat uns also ein komplexes Denkbild auf- und mitgegeben, Teil einer Serie seiner Auseinandersetzung mit der biblischen Geschichte, der er über immer neue Kontextualisierungen immer neue Deutungen abringt.
Anmerkung: Das Bild ist noch bis Freitag, 25. Januar, im Konstanzer Bürgersaal am Stephansplatz zu sehen. Ausstellungszeit: jeweils 14 bis 16 Uhr. Öffentliche Seminare von 18 bis 20 Uhr. Am Dienstag, 22. Januar, mit Ulrich Riebe über politischen Aktivismus im Netz. Am Mittwoch, 23. Januar, mit Schauspieler Georg Melich über prekäres Arbeiten im Kulturbereich. Am Donnerstag, den 24. Januar, mit der Dramaturgin Miriam Fehlker über „Theater als Widerstand, Widerstand als Theater“.
Albert Kümmel-Schnur