„Boden unter den Füssen weggezogen“

Jochen Kelters neues Buch „Sprache ist eine Wanderdüne“ macht Spass. In acht Essays und glasklaren Sätzen vermischt er Literaturwissenschaft und Autobiographisches. Dabei spart er nicht mit Kritik an den Zuständen. Interessierte der lokalen literarischen Vergangenheit können hier viel entdecken.

Jochen Kelter arbeitet sich in seinen Essays an einigen Menschen und Begebenheiten ab, man kommt als Leser nicht umhin, sich zu fragen, ob hier nicht eine beleidigte Leberwurst schreibt. Bitte verleiht ihm doch noch den Bodensee-Literaturpreis, sodass er sich aussöhnen kann mit dem Establishment! Das wäre allerdings schade, denn all diese Abrechnungen bereiten Vergnügen und sind fesselnd zu lesen. Zoff hat Kelter schon mit vielen gehabt, „in ihre Gärtlein bin ich ihnen halt immer wieder hineingetrampelt“. Es ist gleichzeitig sein Selbstverständnis, aus dem er Kraft schöpft: Ein Unbequemer zu sein, einer, wie es ihn heute nicht mehr gibt. Einer, der nicht Dekorationskitsch als Kunst oder Unterhaltung als Literatur verkauft.

„Ich möchte nichts schreiben, das sich von selbst liest“, kommentiert er die Rezension eines Romans von Bestseller-Autor Daniel Kehlmann. Dann lieber Nischen-Literatur machen. Und wenn er nicht gerade pleite wäre, würde er den Preis sowieso ablehnen, der ihm einst so gut wie versprochen wurde.

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Abgehängt am Bodensee

Früher war alles besser, und schuld daran ist: der Kapitalismus. Kelters Sicht der Dinge klingt böse, wenn er eine Auswirkung des neoliberal umgebauten Literaturbetriebs beschreibt, die er selbst zu spüren bekam: „Konnte in den 60er Jahren das Lektorat des Suhrkamp Verlags locker der Kompetenz der Abteilung Neuere Deutsche Literatur einer beliebigen Universität Paroli bieten, kann man heute froh sein, wenn man vom Korrektor im fertigen Satz eventuell ein paar Hinweise auf Fehler oder Irrtümer bekommt.“ Die globale Ökonomie des Kapitalismus habe es geschafft, „Kunst und Literatur in einen alle Qualität (samt ihrer unterschiedlichen Kriterien) nivellierenden Marktplatz von Konsum, Entertainment, Konsens und scheinheiliger Selbstbestätigung zu verwandeln“. Und Zeitungen sind für ihn „zunehmend eine Alibiverpackung für zusehend weniger akquirierte Werbung.“

Teilweise klingt das auch ein wenig altväterlich: Das Internet diene nur dazu, sich jederzeit alle erdenklichen Inhalte kostenlos herunterzuladen. Die Kids heutzutage, die wüssten kaum noch, „dass Musik und Literatur mehr zu bieten haben als Lady Gaga und Fifty Shades of Grey“.

Dabei hat er früher selbst mitgespielt. „Ich schäme mich auch ein wenig“, rekapituliert er selbstkritisch seine Zeit als Präsident der Urheberrechtsgesellschat Pro Litteris. Es sei wie eine Droge gewesen, obschon im Dienste der guten Sache. Zu Sitzungen mit dem Flieger um die Welt jetten ist nichts mehr für den von der Globalisierung Entwurzelten.

Die Heimat rieselt weg

Heute versucht der 73-Jährige, Sprache zu seiner eigentlichen, der wirklichen Heimat zu machen. Seine Geradlinigkeit imponiert; wären die Texte nicht literaturwissenschaftlich, wäre es an manchen Stellen fast komisch, wie arg er sich auf die eigene Schulter klopft. Eines der Fachgebiete des „Homme de Lettres“ ist bosnische Literatur. Ein ganzer Essay ist „Bosnischen Stimmen aus den jugoslawischen Kriegen der 90er Jahre“ gewidmet – selbstverständlich anregend, doch darf man sich fragen, warum stattdessen nicht ein aktueller Überblick veröffentlicht wurde.

Seine Erinnerungen sind auch für Menschen lesenswert, die nicht irgendetwas mit Literatur und Medien studiert haben. Einer seiner Professoren, so wurde posthum bekannt, war im Dritten Reich ein krasser SS-Scherge gewesen. Das hat viele Leute erbost. Kelter hingegen erzählt anekdotisch von Hans Robert Jauss als brillantem Romanisten, der Zigaretten in der Vorlesung schnorrte und der sich auch nach Kelters Rauswurf für seinen Studenten einsetzte. Der ehemalige Nationalsozialist war eigentlich im fortschrittlichen Lager der westdeutschen Gesellschaft angekommen – was, wie Kelter findet, seine Schuld nicht tilgte, ihn aber von seinen alten Kameraden beachtlich abhob.

Richtig spannend wird es, wenn man emotional verbunden ist mit Land und Leuten, über die der in Ermatingen lebende Autor schreibt.

Besonderes Buch

Jochen Kelter, Jahrgang 1946, ist Schriftsteller, Dichter, Übersetzer und Herausgeber. Seine Lyrik und Prosa wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. In «Sprache ist eine Wanderdüne» versammelt der in Ermatingen lebende Autor «Essays zu Literatur und Gesellschaft». Die acht Texte stammen aus den Jahren 2005 bis 2018 und wurden bereits in anderen Sammlungen, Magazinen, teilweise auch nur online, veröffentlicht. Erschienen ist das Buch im Frauenfelder Waldgut Verlag in der Reihe «lektur». Das bedeutet, der Umschlag wurde im Bleisatz gesetzt und per Handpresse im dem Verlag angeschlossenen Atelier Bodoni gedruckt.
131 S./ISBN 978-3-03740-142-2
www.waldgut.ch

Paris scheisse, Ermatingen scheisse, Kapitalismus scheisse

Beispielsweise das Literaturhaus in Gottlieben. Kelter war der erste Leiter dieser bekannten Institution, welche von zahlreichen renommierten Autorinnen und Autoren besucht wurde. Gottlieben habe sich in deren „verschlungene oder schnurgerade Lebenslinie “ eingegraben – ein Lichtblick in einer Gegend, die ihre liebliche Seele verhökere. Als „landfressende Lepra“ nämlich bezeichnet er die fortschreitende Zersiedelung vor Ort, „die Kultur der Agglo“, in der sich raffgierige Protzbürger und konsumgeile Geschmacksverirrte austoben.

Kelter benutzt „verdichtetes Bauen“ als Schimpfwort. Das sollte jeder mitfühlen können, der in den vergangenen 25 Jahren hier gelebt hat. Auch wenn sein Auskotzen an anderer Stelle wieder ein wenig beliebig daherkommt: „Das alles überzieht das Land mit Supermärkten, Autowaschanlagen, Badewelten, Chalet-Imitaten, Diskotheken, Speditionsfirmen, Lagerhäusern, Wohnblöcken, säulengeschmückten Villenverschnitten, Oktoberfesten, Weinfesten, Fischerfesten, windigen Einkaufsmeilen, Blumenkübeln, Wellnesswelten, Autogeschäften, Jazzmeilen, Stadtläufen, Imbissbuden, Thai-Restaurants, Möbeldiscountern und Massagesalons.“

In Paris, da hat er auch gelebt, entsetzt ihn die Veränderung ebenfalls. Alles werde immer eintöniger, immer touristischer, lauter und grauer.

Höhepunkt des Bandes ist der Rückblick auf seine Studentenzeit, der weniger melancholisch als knapp und pointiert erzählt ist. Dabei entwirft Kelter ein wunderbares, verwunschenes, aber leider vergangenes Konstanz mit schmuddeligen Ecken und deftigen Charakteren, in dem sich seine von den Hiesigen als „Asoziale, Langhaarige, Fremde und Schwaben“ verunglimpfte Clique herumtrieb. Dieser Essay wurde vor zwei Jahren als Buch veröffentlicht; es sei hiermit ausdrücklich zum Kauf empfohlen. Sollte es mittlerweile vergriffen sein, bietet sich mit der vorliegenden Sammlung eine Chance, diese 48 Seiten doch noch käuflich zu erwerben.

Auf diese Weise liesse sich der „Tod der Literatur“ verhindern, den der Autor im den Band abschliessenden Text erkannt haben will. Oder zumindest noch eine Weile hinauszögern. Und ein solcher „Literaturpreis“ wäre doch eine feine Sache.

Stefan Böker (Foto: Fraktura Verlag Zagreb)

Der Text erschien zuerst in der „Kreuzlinger Zeitung“.

Jochen Kelter liest am 10.10. aus seinem Essayband im Rahmen der Kulturwoche des Internationalen Bodensee Clubs (IBC) im Bürgersaal am Stephansplatz. Beginn: 19.30 Uhr.