Buchvorstellung im Boxring
Kabarett im Büro, Poetry unter der Brücke und nun: Lesung im Boxring. Veranstaltet wird auch die dritte Auflage der Kunst- und Literaturveranstaltung „Palette03“ vom Konstanzer Autoren und Verleger Jürgen Weber an einem ungewöhnlichen Ort. Dieses Mal nicht im Strohmeyersdorf, nicht unter der Schänzlebrücke, sondern in der Jägerhalle der ehemaligen Jägerkaserne in Konstanz. Weil das Buch, um das es geht, mit Nazis und Militär, mit Boxen und KZ zu tun hat
„Leg dich, Zigeuner“ heißt das im Piper-Verlag erschienene Buch des Hamburger Autoren und Sportjournalisten Roger Repplinger (s.Foto), der am 2. Dezember in den Ring der Jägerhalle steigen wird, um aus seinem Buch zu lesen. In seiner Doppelbiografie schildert Repplinger zwei exemplarische Schicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus – die des Boxers Johann Trollmann und die des Fußballnationalspieler Tull Harders: Der „arische“ Fußballstar und der „Zigeuner-Boxer“ treffen im KZ Neuengamme bei Hamburg aufeinander – als SS-Wachmann der eine, als Häftling der andere. Der Andere wird ermordet, der Eine stirbt unbeschadet 1956 in Hamburg.
Das fabelhaft recherchierte und famos geschriebene Buch erhielt bei seiner Veröffentlichung 2008 enormes Medieninteresse und begeisterte Kritiken. Auch seemoz berichtete am 12.3. 2008 ausführlich und ich erinnere mich an ein vielstimmiges, meist zustimmendes Echo – sogar auf der Straße und im Café wurden wir auf diesen Artikel und dieses Buch angesprochen. Noch heute, zwei Jahre nach Veröffentlichung, wird der seemoz-Text noch aufgerufen.
Aus der Buchbeschreibung des Verlages: „Geschmeidig, schnell, elegant: Wenn Johann Trollmann boxt, sitzt das Berlin der frühen 30er-Jahre bewundernd am Ring. Er hat nur einen »Fehler«: Er ist Sinto, kein »Arier«. Mit blond gefärbten Haaren und Mehl auf seiner braunen Haut steigt er in den Ring, doch die SA-Leute unter den Zuschauern brüllen: »Leg dich, Zigeuner, oder wir holen dich«. Trollmann gehorcht: Besser Boxkämpfe verlieren als das Leben. Als er 1942 ins KZ Neuengamme verschleppt wird, ist ein anderes Sportidol schon da: Tull Harder (1892–1956), Mittelstürmer des Hamburger SV, Nationalspieler und SS-Mann. Er gehört zum Wachpersonal, später zur SS-Kommandantur des Lagers, in dem bis Kriegsende 55.000 Menschen sterben, unter ihnen auch Johann Trollmann, der 1944 ermordet wird.“
Jürgen Weber will mit der Lesung auf die aktuelle Situation von Sinti und Roma aufmerksam machen, „die nicht nur aus Frankreich vertrieben, sondern unbeachtet von weiten Teilen der Öffentlichkeit derzeit auch aus Baden-Württemberg und anderen Teilen Deutschlands tausendfach in den Kosovo abgeschoben werden“. Weber weiter: „Sinti und Roma haben auch heute noch keine Lobby und sie werden in EU-Staaten wie Ungarn inzwischen nicht nur diskriminiert, sondern wie „Vogelfreie“ auf den Straßen gejagt, ihre Unterkünfte werden angesteckt. Die Öffentlichkeit in Deutschland und der EU nimmt dies kaum zur Kenntnis“. Weber findet: „Dass es fast 70 Jahre, nachdem Johann Trollmann von den Nazis in einem Außenlager des KZ Neuengamme einzig, weil er als Zigeuner galt, erschlagen wurde, in Europa wieder Pogrome gegen Roma gibt, ist unerträglich und empörend“.
Da ist ein politischer, keineswegs vergnüglicher Abend zu erwarten: Ein Autor im Scheinwerferlicht des Boxrings, in dem gerade Konstanzer Kickboxer ihre Sachen gepackt haben, erzählt aus der Nazi-Diktatur, die aber auch die Blütezeit des in Südbaden erfolgreichen Meisterboxers Franz Fröhlich und anderer Aktiver des Konstanzer KSV Rheinstrom von 1899 war; aufgeführt in einer Kaserne, die für die Wehrmacht gebaut wurde und ihr Gesicht seitdem kaum verändert hat; mit einem Thema, der Vertreibung von Sinti und Roma, das im wahren Wortsinn totgeschwiegen wird.
»Leg dich, Zigeuner, oder wir holen dich«, Buchvorstellung am 2. Dezember 2010, Jägerkaserne, 20 Uhr, Eintritt: Sechs Euro
Autor: hpk
Weiterer Link: Leg dich, Zigeuner, oder wir holen dich! (12.03.08)