„Corona-Literatur“? Au weia!

Theater sind geschlossen, Verlage bleiben auf ihrer Frühjahrsproduktion sitzen. Ein zunehmend hektisch aufgeblasener Kulturalltag, in dem immer mehr Banales und Überflüssiges Platz findet, ist auf einmal wie ein Luftballon geplatzt. Dass AutorInnen und KünstlerInnen Existenzsorgen plagen und ihnen geholfen werde soll, ist unstrittig. Aber dass in der Leere und Stille nun auf einmal Hektik ausbricht, liegt wohl daran, dass sie halt nur ein Spiegelbild des sonst alltäglichen Aktivismus ist.

Warum nutzen Autoren nicht die stille Zeit, um einfach an ihren Manuskripten zu arbeiten? Schreiben sie gerade an keinem? Das kann höchstens die Ausnahme sein. Stattdessen schreiben sie Corona-Tagebücher und Corona-Romane. Der österreichische Autor Thomas Glavinic hat in der Zeitung Die Welt bereits den ersten Teil seines Manuskripts mit dem Titel Der Corona-Roman veröffentlicht: „Im Kampf zwischen meinem Verdrängungstalent und meiner ausgeprägten Beobachtungsgabe obsiegte … letztere“. Das Deutschlandradio attestiert ihm „schmerzhafte Autofiktion“, „Humor und Hypochondrie“ sowie „selbstironischen Größenwahn“. Muss man das lesen?

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Tillman Ramstedt hat auf Zeit online die Mini-Serie Der Quarantäne-Tröster publiziert. Der Schweizer Peter Stamm veröffentlicht sein Krisen-Journal und schwelgt in Erinnerungen und Musik. Pathetisch (und damit kitschig) wird die Journalistin Carolin Emcke (immerhin Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels).Sie findet es „berührend“, wie Kulturschaffende sich jetzt „verausgaben, wo es nur geht“, indem sie in einer „riesigen Angstvertreibungs-Kommunikationsmaschinerie gegen den eigenen horror vacui anproduzieren“. Viel ist auch die Rede von der Kindheit und wie die Erinnerungen an sie „Halt geben“ und „Trost spenden“.

Das Online-Magazin thurgaukultur.ch hat Video- und Smartphone-Filmchen von Künstlern angefertigt und online gestellt, in denen musiziert und vorgelesen wird. Kinderliteratur und eigene oder fremde, von Autoren/innen gelesene Texte. Das ist wenigstens keine Corona-Literatur, auch wenn man sich fragt, warum man in den eigenen vier Wänden nicht ganz einfach Bücher in stiller Augenlektüre lesen und dafür vielleicht Hinweise auf Bücher erhalten könnte. Muss das sein: Selbstdarstellung in der Krise? Die Schweizer Lyrik-Gesellschaft Pro Lyrica berichtet, sie habe seit dem 25. März bereits über 150 Gedichte und Tagebucheinträge von über 30 Autoren/innen erhalten. Wer, oh Schreck, soll die alle lesen wollen?

Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zeigt sich auch in der Krise als das, was sie mehrheitlich auch zu Normalzeiten ist: Teil der U-Branche, Abteilung Unterhaltungsliteratur, die zur Zeit indessen eher sich selber unterhält. Mit nostalgischen Erinnerungen, Wachträumen, geschilderten Spaziergängen, Teestunden, Wolkenbetrachtungen und einer Portion eitlem Narzissmus. Kaum jemand scheint wirklich über den eigenen Tellerrand, das eigene, bestens geschützte Ego hinausschauen zu wollen. Kaum jemand stellt sich die Frage nach gesellschaftlichen Zusammenhängen, ob zum Beispiel Klimawandel und Pandemien zusammenhängen, ob das „normale“ Funktionieren unserer auf Konsum, Business und Arbeitsethik getrimmten Gesellschaft mit unserer derzeitig noch stärkeren sozialen Vereinsamung zu tun hat. Zu Hilfe kommen unserer Nabelschau dabei die zahllosen Corona-Anglizismen , die den Vorteil haben, dass man nicht auf Anhieb versteht, was sie wirklich bedeuten. Der Begriff Lockout klingt halt harmloser als „Aussperrung“. Und Social distancing will uns weismachen, dass es um körperlichen Abstand geht. Der wahre Inhalt „soziale Distanz oder „Distanzierung“ sollte einem aber spätestens dämmern, wenn man den Blick in diesen Zeiten auf Afrika, Südamerika oder Südasien richtet.

Jochen Kelter (Bild: Carl Spitzweg, Der Arme Poet, 1839. Gemeinfrei)