Das Schweigen der Druiden

Nicht alle Komponisten waren tatsächlich Komponisten von Beruf. Erst, nachdem er abends seine Pferdemetzgerei zugesperrt und all das Blut abgeduscht hatte, verwandelte sich etwa Erik Satie in den Meister heiterer musikalischer Freiübungen … halt, das ist gelogen. Tatsache hingegen ist, dass sich Charles Ives lieber eine goldene Nase als Versicherungsunternehmer verdiente, statt heldenhaft als bahnbrechender Komponist zu verhungern.

Natürlich kann man dem US-Amerikaner Charles Ives (1874-1954) ein frühkindliches Trauma nachsagen, kam er doch – wie so viele bedeutenden Komponisten – aus einer musikalisch aktiven Familie. Aber seine Familie war scheint’s etwas anders als all die Bachs, Beethovens oder Brahmsens, die es in deutschen Gauen zu zwölft auf ein Dutzend gab. Es wird berichtet, sein klangfreudiger Vater, Leiter einer Blaskapelle der Armee, habe von einem Kirchturm aus mehrere Blasorchester gleichzeitig dirigiert. Dass er diese Bands dabei simultan unterschiedliche Stücke spielen ließ, habe bei den Bewohnern von Danbury (Conn.) zwar für Missmut gesorgt, weil ihnen dabei die Milch sauer wurde, dem jungen Charles aber habe diese Polyphonie einen Heidenspaß bereitet und ihn fürs Leben geprägt.

„Heiden“spaß passt hier natürlich nicht ganz, denn im Connecticut des 19. Jahrhunderts war man ziemlich religiös, daher denke man sich Ives schon als Kind wie auch später als Erwachsenen besser als depressiven Menschen, außer in jenen Momenten, in denen die Musik sein Leben besonnte. Er war früh ein guter Organist und schrieb bereits als Teenie etwas unbeholfene „Variations on ‚America'“, die sich stark nach Zirkusorgel anhören. Der Kirchengesang blieb eine hörbare Inspiration in seinem Werk, ebenso die Blasmusik. Weltliche Blasorchester waren in den USA ja mit der Religion bestens vereinbar, wenn man wieder einmal mit ordentlich Schmackes das Nationale feierte. Hoch das Bein fürs Vaterland! Nicht umsonst reimen sich „Nation“ und „Religion“, wenn man das nur will.

Krawumm

Die Anekdote mit Vater Ives auf dem Kirchturm gibt es so ähnlich auch in weniger herzerfrischenden Varianten ohne Kirchturm. Sie ist durch und durch glaubhaft, denn Charles, nur 37 Tage nach Schönberg geboren und damit Zeitgenosse der frühesten europäischen Avantgarde-Generation, liebte es Zeit seines Lebens, musikalisch ziemlich schräge Dinge zu tun. Sein umwerfender „Central Park in the Dark“ von 1906 etwa ist ein modernes Stück, kurz bevor Schönberg endgültig mit der hergebrachten Tonalität aufräumte. Ives arbeitete damals auch bereits sehr souverän mit Versatzstücken des Ragtime, zu einer Zeit, zu der der Vorzeige-Jazzer der älteren Generation, „Satchmo“ Louis Armstrong, gerade seine allerersten Zähnchen kriegte.

Ives war in viele Richtungen offen. Sein Kopf schwebte bereits direkt neben seiner Seele im Himmel, aber seine Füße steckten bis zu den Knöcheln in der Erde Neuenglands. Er komponierte vierteltönige Musik, ließ es aber auch gern mal schützenfestmäßig krachen (wie in „The Fourth of July“ aus „New England Holidays“). Seine monumentale Klaviersonate No.2, eines der großen Klavierwerke des 20. Jahrhunderts, huldigt dem amerikanischen Transzendentalismus, einer idealistischen Gedankenverknotung, der Emerson, Thoreau und Hawthorne anhingen. Sie ist trotzdem zum Niederknien schön.

Frag mich was

Auf das Konto dieses zu Lebzeiten kaum anerkannten kompositorischen Genies geht auch „The Unanswered Question“, ca. 1906 für Trompete, vier Flöten und Streichquartett geschrieben, später auch für Orchester bearbeitet und erst 1946 uraufgeführt. In der ursprünglichen Kammermusikfassung wird das Werk am nächsten Sonntag zusammen mit weiteren wegweisenden Stücken des 20 Jahrhunderts in der Dreifaltigkeitskirche in Konstanz gespielt.

Ives selbst beschrieb sein Opus (allen Ernstes) so: „Die Streicher spielen durchweg pianissimo ohne Tempowechsel. Sie sollen ‚Das Schweigen der Druiden‘ darstellen, ‚die nichts wissen, nichts sehen und nichts hören‘. Die Trompete intoniert ‚Die ewige Frage des Seins‘ und stellt sie jedes Mal im gleichen Tonfall. Die Jagd nach der ‚Unsichtbaren Antwort‘, auf die sich die Flöten und andere menschliche Wesen begeben, wird immer lebhafter. Im Lauf der Zeit und nach einer ‚Geheimen Besprechung‘ scheinen die ‚Kämpferischen Antwortenden‘ die Nutzlosigkeit ihrer Bemühungen einzusehen und beginnen, ‚Die Frage‘ zu verspotten – der Streit ist für den Augenblick beendet. Nachdem die antwortenden Stimmen verschwunden sind, wird ‚Die Frage‘ ein letztes Mal gestellt, und man hört ‚Das Schweigen‘ in ‚Ungestörter Einsamkeit‘.“(1)

Man merkt schon, Transzendentalismus ist etwas verwirrend und auch noch ziemlich anstrengend. Die Musik von Ives hingegen ist all dies nicht, sondern ein echtes Kleinod der frühen Moderne: Wenige Minuten dahingetupfter Klänge von bezwingender Einfühlsamkeit, turbulenter Klarheit und impressionistischer Logik.

Außerdem gibt es am Sonntag in der Dreifaltigkeitskirche Werke von Urmas Sisask, George Crumb, Samuel Barber, Claude Vivier, Olivier Messiaen und Younghi Pagh-Paan zu hören. In der Vorankündigung schreibt Michael Lünstroth: „Die 1945 in Südkorea geborene Pagh-Paan sieht beispielsweise ihre Komposition ‚U-mul‘ als Auftakt einer Reihe von Stücken, die sich an den Ideen des Maoismus orientieren.“ Dieser „Brunnen“ ist in der Tat ein recht volkstümliches Werk der lange in Deutschland wirkenden Komponistin. Aber die Strapazen von Maos Langem Marsch hört man ihrer Musik nicht an, eine Kulturrevolution findet bei ihr nicht statt – stattdessen klingeln ziemlich bürgerlich die Gebetsglöckchen.


(1) Booklet zur CD „Charles Ives: Holidays Symphony“ mit Chicago SO & Chorus, Michael Tilson Thomas.
Hörtipps:
Charles Ives, „Central Park in the Dark“ (7 Minuten):
https://www.youtube.com/watch?v=34AqNvhBfVQ
Charles Ives, „Majority“, eines der allerschönsten jemals geschriebenen Lieder (7 Minuten):
https://www.youtube.com/watch?v=5tc8UhNIfio


Sonntag, 25. Februar, um 18 Uhr in der Dreifaltigkeitskirche Konstanz: „Hosianna“. Philharmonisches Kammerorchester für Neue Musik der Südwestdeutschen Philharmonie, Vokalensemble UniSono, Dirigent Franz Lang.
Karten: 18 Euro | ermäßigt: 14 Euro
Kasse im Stadttheater, Konzilstraße 11, 78462 Konstanz, Telefon: 07531 900-150, Di bis Fr 10–19 Uhr, Sa 10–13 Uhr
Südwestdeutsche Philharmonie, Fischmarkt 2, 78462 Konstanz, Telefon: 07531 900-816, Mo bis Fr 9.00–12.30 Uhr, philharmonie-karten@konstanz.de


Harald Borges (Foto: Vokalensemble UniSono)