Demenz – aus der Welt des Vergessens
Durch eine Neuregelung des Arzneimittelgesetztes ist es künftig in Deutschland erlaubt, an Demenzkranken für die Allgemeinheit zu forschen. Die Konstanzer Künstlerin Stefanie Scheurell hat das schon vor Jahren gemacht. Nicht im Namen der Wissenschaft, sondern im Namen der Kunst hat sie sich mit der Demenz befasst und ein umfangreiches Portrait ihrer Großmutter angefertigt. Mit „RUTH“ gibt es nun einen Bildband, der das kontroverse Werk begleitet.
Ruth war an der Demenz erkrankt, die ihre Persönlichkeit verändert hat. Eine Krankheit, die sich nicht nur im Inneren abspielt, die nicht heimlich, still und leise kommt, wie ein Tumor. Nein, Demenz geht nach außen und kann sehr laut sein. Wenn der erkrankte Mensch singt, ruft, schreit, hysterisch lacht, Geschichten erzählt, in ständiger Wiederholung, Geschichten aus der Kindheit, aus der Jugend, von Früher. Und dann werden Details vertauscht. Die Namen der eigenen Kinder werden vergessen. Orte, die es nicht mehr gibt, werden wieder präsent. Was gestern war, ist nicht mehr zugänglich, dafür aber der Name des ersten Haustiers, von dem so viel erzählt wird, als wäre es wieder lebendig, nach 75 Jahren.
Das Geschirr kommt in den Kleiderschrank
Dann wird Alltägliches vergessen, Dinge verschieben sich. Eine Zahnbürste ist keine Zahnbürste mehr. Das Geschirr kommt in den Kleiderschrank. Wenn der Paketbote klingelt entsteht Angst. Alte Traumata, die längst vergessen waren, klaffen auf, in einem Kontext, den keiner begreift, von außen nicht, und auch der Mensch selbst scheint nicht zu wissen, was geschieht. Die Erkrankten scheinen sich selbst zu verlieren, zumindest das gegenwärtige Selbst und sie scheinen sich selbst zu finden, in alten, längst vergangenen Dingen. Was geschieht also mit dem Ich im Laufe dieser Krankheit?
Diese Frage stellt sich der Forschung und begleitet Scheurells Arbeit. Ruth hieß die Großmutter der Künstlerin, die 2009 verstarb, „RUTH“ ist der Titel der damaligen Ausstellung und des Bildbandes, der jetzt in limitierter Auflage vorliegt. RUTH – ein Symbol für das Altern.
Er zeigt Portraits, die sofort ins Auge stechen. Sie blicken vom Cover des Buches, hinein ins Leere, vorbei am Betrachter, in eine andere Welt. Der Wendeumschlag des Bildbandes lässt vier verschiedene Perspektiven zu. Das passt zum Inhalt. Dieser ist komplex. Zum einen rein materiell: Scheurell beschäftigt sich mit der Thematik ihrer Kunstwerke, indem sie unterschiedliche Ausdrucksformen nützt. So sind es in diesem Fall Portraits und Dokumentationsfotos aus der Gesamtinstallation „RUTH“. Zu sehen ist beispielsweise das Requisitenlager der Foto- und Videoinszenierungen. Letztere werden im Buch beschrieben, es ist beispielsweise eine Sequenz darunter, in der Ruth eine Waschmaschine mit Orangen befüllt.
Es gibt keinen Verstand mehr
Aufnahmen von ihren Monologen, inhaltlich absurd, beängstigend, dann wieder komisch, rührend, traurig – die ganze Palette von Gefühlen, hineingepresst in ein paar Sätze, die wie von selbst aus Ruth herauskommen.
Es gibt keinen Verstand mehr, der dirigiert. Es geschieht einfach. All das ist von Scheurell festgehalten und dokumentiert. Es entsteht ein komplexes Gesamtporträt in unterschiedlichen medialen Betrachtungsweisen. Wobei die Krankheit selbst nicht Inhalt der Dokumentation sein soll. „Ich habe mir nie direkt zur Krankheit Gedanken gemacht. Wichtig war mir Omas individuelles Ich und ihre absurden Realitätssprünge, diese Verschiebung und Überlagerung der Welten. Und eben ihr besonderer Charakter“, so Scheurell.
Womit man bei der transzendenten Kontroverse wäre – der moralischen Frage: Ist es in Ordnung eine demente Person derart abzubilden? Sie zu verkleiden, zu bemalen, ihr Verhalten zu filmen, intime Details als Kunst zu präsentieren? Sie als Objekt der Kunst zu zeigen, als Kunst-Werk? Um derlei Fragen zu klären, begleiten Texte den Bildband. Auch hier ist die Thematik differenziert dargestellt: In Beschreibungen des Werkes, Erklärungen zur Krankheit, einem Interview mit der Künstlerin, das Einblicke gewährt – Einblicke aus kunsthistorischer, medizinischer und persönlicher Perspektive also.
Ruth steht im Vordergrund, nicht ihre Krankheit
Dabei wird deutlich, dass exakt dies eben nicht geschieht: Die Objektivierung von Ruth, im Gegenteil. Scheurell will mit diesem Portrait ihrer Großmutter eine Hommage schaffen an deren Charakter und Persönlichkeit. Sie bringt Eigenschaften und Erlebnisse von Ruth zum Vorschein, die nicht erst mit der Krankheit entstanden sind, sondern weit vorher. Sie erfüllt mit diesem Projekt einen Traum, der Ruth zeitlebens versagt war: Schauspielerin sein. Hinter diesem Wunsch steht, dass man etwas darstellt und sichtbar macht. Sich verkleidet, Dinge überzieht, auf die Spitze bringt, überzeichnet, provoziert. Um zum Nachdenken anzuregen. Um gesehen zu werden. Um zu bewegen. Und das ist es, was geschieht, beim Betrachten von „RUTH“.
Veronika Fischer
Der limitierte Bildband kann direkt über die Künstlerin für 45 Euro bezogen werden. Kontakt: stefanie.scheurell@gmail.com, Tel. 0176-80887324.