Der Freidenker aus dem Glaserhäusle in Meersburg

20111006-222155.jpgMal was vom „Meersburger Kirchenkampf“ gehört? Macht nichts – weiterlesen. Aber den Mauthnerweg in der Meersburger Oberstadt kennen Sie schon? Und wer war dann Fritz Mauthner? Seine monumentale „Geschichte des Atheismus“  ist in diesen Tagen neu erschienen – ein Freiburger Literaturwissenschaftler hat das ermöglicht, ein Freiburger Journalist hat darüber geschrieben. Eine Wiederentdeckung nicht nur literarischer Art  

Am Glaserhäusle, einem kleinen, grün umrankten Anwesen am Rande der ehemaligen Bischofsresidenz Meersburg, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Über steile Weinberge hinweg öffnet sich rechts ein entzückender Blick auf die Mainau. Nach links gewendet breitet sich vor den Augen des Schauenden fast der gesamte Obersee aus. Bei klarer Luft ist das Alpenpanorama überwältigend. Kein Wunder, dass die große Dichterin Annette von Droste-Hülshoff dieses Kleinod in einem ihrer Gedichte besungen hat. Für Hedwig Straub und Fritz Mauthner muss es so etwas wie die Erfüllung eines Lebenstraums gewesen sein, als sie es 1909 erwarben und an den Bodensee übersiedelten.

Die Wege der beiden hatten sich einige Monate zuvor in Freiburg gekreuzt. Sie, 1872 als uneheliche Tochter eines badischen Notars in Emmendingen geboren, als knapp Zwanzigjährige der provinziellen Enge und dem Zugriff eines Freiburger Katecheten entflohen, nach Abitur und Medizinstudium im Auftrag der französischen Regierung einige Jahre als Ärztin in Algerien, Tunesien und Timbuktu tätig, war 1904 in den Breisgau zurückgekehrt, um ihre Medizinstudien zu vertiefen. Er, 1849 als viertes von sechs Kindern eines jüdischen Tuchhändlerehepaars im böhmischen Horice zur Welt gekommen, aufgewachsen in einem areligiösen Umfeld, hatte in Prag Jura studiert, lebte danach einige Jahre in Berlin, wo er sich als Autor von vielgelesenen literarischen Parodien und historischen Romanen einen Namen machte, ehe er sich mehr und mehr der Philosophie und der Sprachkritik zuwandte. Herausragend die dreibändigen „Beiträge zur Kritik der Sprache“ und das „Wörterbuch der Philosophie“. Autoren wie Ludwig Wittgenstein, Samuel Beckett oder James Joyce gehörten zu seinen Lesern und holten sich Anregungen bei Fritz Mauthner.

Eine Ideengeschichte des Infragestellens

1905 verlegt er seinen Wohnsitz nach Freiburg, wo er der Kant-Gesellschaft beitritt, in den akademischen Kreisen der Stadt verkehrt und Hedwig Straub kennen- und lieben lernt. 1910, ein Jahr nach dem Umzug nach Meersburg heiratet das Paar. Bald darauf nimmt Mauthner sein vielleicht ambitioniertestes Projekt in Angriff: die vierbändige Geschichte des abendländischen Atheismus von der Antike bis in die Gegenwart. Eine Herkulesaufgabe, um deren Bewältigung er bis zu seinem Lebensende 1923 ringen wird.

Ludger Lütkehaus, der Freiburger Philosoph und Literaturwissenschaftler, bemüht sich seit Jahren, Mauthners Werk wieder zugänglich zu machen. Jetzt hat er sein opus magnum – sorgfältig editiert und mit einer hochgescheiten Einführung versehen – im Aschaffenburger Alibri-Verlag neu herausgegeben. Es ist ein inhaltlich schwergewichtiges, stilistisch, sprachlich und formal jedoch erstaunlich leichtfüßiges Jahrhundertwerk über die ebenso wechselvolle wie spannende Entwicklung der abendländischen Freidenkerei, das der Leser da in Händen hält. Eine Ideengeschichte des Widersprechens, des Abweichens, des emanzipierenden Infragestellens, die weder sauertöpfisch-apodiktisch daherkommt, noch den Kardinalfehler vieler Anti-Dogmatiker begeht, die beim Niederreißen festgefügter Lehrgebäude nur neue Denkbarrieren auftürmen. Vollkommen unverständlich, wie ein solches im besten Wortsinn aufklärerisches und aufgeklärtes Bravourstück einem fast hundertjährigen Vergessen anheim fallen konnte.

Eine wahre Fundgrube, die sich jederzeit auch als Nachschlagewerk nutzen lässt

Mauthner durchdringt seinen gewaltigen Untersuchungsgegenstand mit ebenso imponierender wie souveräner Gelehrsamkeit. Angefangen bei der pelagianischen und manichäischen Ketzerei, derer sich die christlich-kirchenväterliche Rechtgläubigkeit der Spätantike zu erwehren hatte, bis hin zu Friedrich Nietzsche, dem vogelfreien Verkünder des Gottesmordes, entwirft Mauthner auf fast 2000 Seiten ein faszinierendes Panoptikum jenes Zweigs der abendländischen Geistesgeschichte, an dessen Endpunkt die Überwindung des „gewaltigsten Gedankenwesens, das in der Menschheit gewirkt hat“ steht.

Dass in Mauthners Genealogie der Gottesbefreiung auch durchaus gottnahe Geister wie Johannes Hus, Martin Luther, Erasmus von Rotterdam, Pierre Bayle, Baruch de Spinoza, Wilhelm von Ockham oder Meister Eckhart ihren Platz finden, überrascht. Mancher Leser wird darin gar einen unzulässigen Akt atheistischer Vereinnahmung sehen. Aber Mauthner hat diese Schwachstelle im Blick, wenn er beinahe apologetisch schreibt: „Die Geschichte der Befreiung vom Gottesbegriff wäre aber kläglich lückenhaft, wenn ich mich auf die Reihe der dogmatischen Gottesleugner beschränkt hätte“. Ganz sicher hat die „Halbheit der Freidenkerei“ bei so manchem kritischen Denker zumindest bis zur Aufklärung mit der Sorge um seine körperliche Unversehrtheit zu tun. Und mit der Abhängigkeit von der Sprache der Zeit, die im abendländischen Kulturraum nun einmal eine gemeinsame christliche Sprache mit ihrer ganz eigenen, kulturell gewachsenen, aber eben auch bedingten und damit wandelbaren Begrifflichkeit war und ist. Die Geschichte des geistigen Befreiungskampfes geht somit einher mit der nominalistischen Entzauberung der Welt – der Sprachkritiker lässt grüßen.

Der Stoffreichtum von Mauthners Atheismusgeschichte ist riesig, eine wahre Fundgrube, die sich jederzeit auch als Nachschlagewerk nutzen lässt. Frappierend die ungeheure Belesenheit, das stupende Wissen des Autors. Seine stilistischen Qualitäten, sein Witz, den er bisweilen mit einem milden Schuss Sarkasmus würzt, seine Heiterkeit machen die Lektüre immer wieder zum Vergnügen. Selbst gelegentliche Fehleinschätzungen können dies kaum trüben: Dass es (bereits) vorbei ist mit dem alten Glauben, mag ein oder zwei Generationen nach Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ oder „Der Antichrist“ vielleicht erwartbar gewesen sein, glaubt heute aber – zumindest ernsthaft – niemand mehr.

Wie dem auch sei, dass in religiösen Dingen mächtige Beharrungskräfte am Werk sind, die vor allem in Zeiten persönlicher, kollektiver oder globaler Not und Bedrängnis wirksam werden, ist beinahe schon Gemeinplatz. Jedenfalls ist sich Mauthner des ungeheuren, den Kern menschlichen Seins berührenden Verlustes wohlbewusst, von dem die Botschaft „Gott ist tot!“ kündet. Er weiß, dass die atheistische eine vaterlose Gesellschaft verwaister Kinder ist. Und so überrascht es wenig, wenn er als Schlussstein seiner epochalen Gedankenkathedrale die Vision einer gottlosen Mystik einfügt, die ebenso sprachlos wie friedfertig ist.

Ehrenbürgerwürde verliehen, aberkannt und wieder verliehen

Die rauer werdende Wirklichkeit geriert sich da weit unversöhnlicher: Schon vor der Veröffentlichung des ersten Bandes der Atheismusgeschichte hat die bislang so beschauliche Bodenseeidylle der Mauthners bedrohliche Risse bekommen. Zwar wird dem „bekannten und bedeutenden Publizisten der deutschen Literatur“ 1919 zu seinem 70. Geburtstag die Ehrenbürgerwürde der Stadt Meersburg verliehen, doch erregt ein Zeitungsartikel, den ein Freund des Geehrten kurz darauf veröffentlicht, das Missfallen des damaligen Stadtpfarrers Karl Friedrich Martin. Der Ortsgeistliche wird darin als „Oberpriester der Sekte“ verspottet, „welche dort gewaltig das Land beherrscht und der ihn (Mauthner) hin und wieder besuchte, weil er ihn nicht verbrennen lassen konnte als Ketzer, und es ihn doch zuweilen kitzelte, ein wenig in die schauerlich einsamen Abgründe des Ahnens der letzten Dinge hinabzublinzeln, anstatt immer nur im Kindergarten der Phantasie mit seinem Himmel und seiner Hölle herumzuspazieren“.

Neben dieser reichlich respektlosen Invektive ist es der Bericht über eine Nottaufe, der den frommen Gottesmann in unheiligen Zorn versetzt. Mauthner hatte sie aus mitfühlender Menschenfreundlichkeit an dem unehelichen Kind seiner streng katholischen Haushaltshilfe vollzogen. Das Kind war völlig überraschend mitten in der Nacht zur Welt gekommen und drohte zu sterben. In einem für einen erklärten Atheisten selbstüberwindenden Akt tauchte er in genauer Kenntnis kirchlicher Rituale seine Hände ins Wasser, nässte damit das kleine Haupt des unglücklichen Erdenwurms und bewahrte so die verzweifelte Mutter vor zukünftigen Gewissensqualen, weil das ungetaufte Kind ihrem Glauben nach in die (Vor-) Hölle hätte fahren müssen. Pfarrer Martin jedoch ist solcherart sakramentale Amtsanmaßung ein Gräuel und von der Kanzel donnert er schon bald hinab, der Teufel selbst hätte in Gestalt Mauthners die „dralle Deern“ geschwängert.

Zwischen Kirchenkampf und Provinzposse

Als kurz darauf der erste Band der Atheismusgeschichte erscheint, sieht sich Mauthner endgültig im Zentrum einer Provinzposse, die als „Meersburger Kirchenkampf“ in die Annalen des Bodenseestädtchens eingegangen ist. Auf Initiative des Pfarrers und mit Unterstützung der Zentrumspartei soll ihm die Ehrenbürgerwürde wieder aberkannt werden. Das Vorhaben scheitert zwar an den hohen juristischen Hürden, doch das Band zu weiten Teilen der Bevölkerung ist zerschnitten. Meersburger Geschäftsleute weigern sich fortan, ihm Lebensmittel zu verkaufen. In einem Brief klagt er: „Eine Pfaffenhetze wegen Gottlosigkeit droht mich langsam um alles Behagen zu bringen“. Zwar kommt es am 1. Mai 1920 am Glaserhäusle zu einer Solidaritätskundgebung von Arbeitern aus der Umgebung, doch schreibt Mauthner noch im drauffolgenden August: „Die Hetze gegen mich geht weiter. (…) Na, bis zum Lebendig-verbrannt-werden wird’s nicht kommen“.

Die ganz anderen apokalyptischen Schrecken, die noch kommen sollten, Fritz Mauthner hat sie – fast ist man geneigt von der Gnade des frühen Todes zu sprechen – nicht mehr erlebt. Er stirbt 1923, kurz nach der Vollendung des vierten und letzten Buchs seiner Atheismusgeschichte. Hedwig Mauthner, die unter ihrem Pseudonym Harriet Straub zahlreiche Erzählungen und Reiseberichte veröffentlichte, treffen die Nachstellungen der Nazibarbaren jedoch existenziell. Als Ehefrau eines Juden verhängt man ein Schreibverbot über sie. Auch die Witwenrente wird ihr gestrichen.

Aller materiellen Grundlagen beraubt, soll ihr schließlich das mit Hypotheken belastete Glaserhäusle genommen werden. Dank finanzieller Zuwendungen von Freunden – darunter des Dichters Gerhard Hauptmann – wird dies abgewendet. Auch der neue, dem Postulat christlicher Nächstenliebe zugetanere Stadtpfarrer Wilhelm Restle, unterstützt die mittellose Frau nach Kräften, was bald zu unschönen Gerüchten im Ort Anlass gibt. Hedwig Mauthner stirbt 1945, wenige Wochen nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Vier Jahre später revidieren die Meersburger Ratsherren ein Naziunrecht und geben Fritz Mauthner seine Ehrenbürgerwürde wieder zurück. Diese war ihm – dem jüdischen Freigeist – während des „Tausendjährigen Reichs“ dann doch noch genommen worden. Seit 1955 ist zudem eine Straße nach ihm benannt.

„Vom Menschsein erlöst“

Das schlichte Ehrengrab der Mauthners auf dem Meersburger Friedhof besteht aus einem liebevoll gepflegten Blumenbeet und zwei immergrünen Buchsbäumen, die einen unbehauenen Granitfindling umwachsen. Der Grabstein ist bar aller religiösen Symbole, nur die aufgesetzten Namen der beiden hier Bestatteten und der Satz „Vom Menschsein erlöst“ finden sich darauf. Ein nüchternes, zutiefst pessimistisches Lebensfazit, dessen mystisch-buddhistische Konnotation offensichtlich ist, das aber ebenso gut an die mannigfaltige Drangsal denken lässt, die Nicht- oder Andersgläubigen, die Zweiflern, Ketzern oder Apostaten allzu oft von Menschen widerfährt, deren Menschlichkeit durch den verbohrten Glauben an allzu gewisse Gewissheiten korrumpiert wird. So gesehen erscheint es nur folgerichtig, wenn Ludger Lütkehaus seine editorische Großtat Karlheinz Deschner, dem Kriminalgeschichtler des Christentums, zueignet.

Auch wenn Fritz Mauthners Atheismusgeschichte keinesfalls frei von historischen Irrtümern ist, in einer Zeit neuer, blutiger Glaubenskonflikte, der Wiederkehr religiöser Fundamentalismen und Intoleranzen, eines mit antiaufklärerischen Ingrimm durchdrungenen evangelikalen Kreuzzugs gegen alles Moderne, sowie eines neokonservativ gewendeten Katholizismus ist sie von ungebrochener Aktualität und Brisanz. Und ermutigender Lesestoff für all jene, deren Sorge der geistigen Grundlagen einer freien, offenen und toleranten Gesellschaft gilt.

Autor: Karlheinz Schiedel/BZ

Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Herausgegeben und eingeleitet von Ludger Lütkehaus. Alibri-Verlag, Aschaffenburg 2011. Vier Bände, 1975 Seiten, 179 Euro.