Der fremde Blick in Zeiten der Pandemie

Im Jahr 1721 veröffentlichte Baron de Montesquieu anonym den Briefroman Lettres persanes, in dem zwei Perser in den letzten Regierungsjahren Ludwig XIV. über Ghom, Smyrna und Livorno bis nach Paris reisen und ihren Korrespondenzpartnern daheim mit einer Mischung aus Staunen, Spott und Missbilligung die politischen, religiösen und kulturellen Verhältnisse in ihrem Gastland schildern. Auf diesen Spuren wandelt jetzt das Literarische Jahresheft Mauerläufer, das diesen fremden Blick riskiert.

Während Montesquieu mit seinem fiktiven Reisebericht vor fast 300 Jahren einen der frühesten klassischen Texte der europäischen Aufklärung geschrieben hat, haben wir von der Redaktion für unseren neuen Mauerläufer Autorinnen und Autoren rund um den Bodensee (und darüber hinaus), Fremde, Einheimische, Zugezogene, Migranten gebeten, schreibend einen fremden, einen neuen Blick auf unsere Gegend und unsere Regionen, aber auch auf andere Weltgegenden zu richten. Bis zum Redaktionsschluss Ende Februar haben wir weit über fünfzig Einsendungen (nicht nur) zum Thema bekommen. Und dann kam der „Lockdown“, was ja zunächst so viel harmloser klang als „Aussperrung“ oder „Einsperrung“, als was er sich aber dennoch rasch entpuppte. Auch unsere Redaktion wurde natürlich völlig überrumpelt und verharrte zunächst in Schockstarre. Bald begannen wir uns zu fragen, ob angesichts der völlig neuen Situation einer Pandemie unser Thema noch zu halten sei.

Wir haben schließlich entschieden, am Thema Der fremde Blick festzuhalten. Zum einen ist die Corona-Krise nicht beendet. Und wir wissen noch nicht, was noch auf uns zukommt und wie das Leben danach aussehen wird, welche Konsequenzen gezogen werden (müssten). Deshalb können zum anderen Texte, die in diesem Krisenfrühjahr entstanden sind, keine gültigen, geschweige abschließenden Äußerungen zu Tage fördern, auch wenn Autorinnen, Autoren und KünstlerInnen in ihrem Kämmerlein, ihrer Klausur nur so vor Corona-Texten und -Kommentaren zu sprudeln scheinen. So hat die Schweizerische Lyrische Gesellschaft Pro Lyrica in zwei Monaten über 250 Beiträge, Tagebuchnotizen und Gedichte, erhalten. Wer, bitte, soll das alles lesen (wollen)?

Der fremde Blick wird auch zukünftige Texte zur Corona-Pandemie beeinflussen. Und schon heute schärft er den Blick auf das normalerweise so nicht Gesehene und Erlebte. So beschreibt in Kapitel 1 Simay Alsan in ihrem Brief an die Tante daheim ihre Eindrücke, ihr Befremden und Staunen in ihrer neuen Heimat St. Gallen, die sich in so vielem von Istanbul unterscheidet. Der Serbe Sinan Gudzevic aus Zagreb berichtet, wie einer der ersten jugoslawischen Gastarbeiter in der Schweiz die Seegfrörni von 1963 erlebte. Man konnte über das Eis selbst mit einem Pferd ans andere Ufer gelangen. „Aber ich kenne mindestens zwei Sturköpfe, die sagen würden: ‚Hare hat gelogen, und Sinan lügt auch'“. Der aus Iran stammende Autor SAID beschreibt in seinem Langgedicht der kurier ohne eigene stimme die fremde Welt der Geheimdienste. In Kapitel 2 mit dem Blick auf unbekannte Länder und Territorien erzählt Andreas Kirchgässner aus der berberischen Kasbah Tamnougalt in Marokko. Der in Wien lebende Max Lang widmet einen Zyklus Gedichte unspektakulären Ansichten der Stadt Bregenz im Kapitel 3, das dem Blick auf die eigene Heimat gewidmet ist.

Unsere Mitherausgeberin Katrin Seglitz hat im nicht thematisch gebundenen Kapitel 4 das eigene Fremdwerden in einer Extremsituation thematisiert, die uns aus Gewohnheiten katapultiert wie aus einem sich überschlagenden Auto. Das Kapitel 5 ist thematisch ungebunden und bringt u.a. Texte des Konstanzer Lyrikers Peter Salomon und, zum ersten Mal im Mauerläufer, der Schweizerin Ruth Erat. Anstelle eines Nachworts haben wir den aus Oberschwaben stammenden Autor Volker Demuth gebeten, uns einen Text über seine Zeit im „Lockdown“ zu verfassen. Das stieß schon vorab auf Widerspruch in der Redaktion. Uckermärkische Notizen ist ein Text aus der Stille, aber er ist seiner politischen Aussage wegen auch sehr kontrovers diskutiert worden. Die wichtigsten Einwände finden sich daher kurz zusammengefasst nach seinem Text ebenfalls am Ende der diesjährigen Ausgabe. Die künstlerische Gestaltung hat wieder unsere Grafikerin Eva Hocke zusammen mit Künstlern/innen aus der weiteren Region übernommen.

Wir hoffen, dass unser Jahresheft termingerecht Mitte September erscheinen kann und wünschen den Leserinnen und Lesern anregende Lektüren des Fremden in der Welt, um uns herum und in uns selbst.

Jochen Kelter (Bild: Friedrich Pöhler/ Cover-Ausschnitt Mauerlaeufer 20/21)


Erhältlich in deutschen und schweizerischen Buchhandlungen sowie per Mail an bestellung@mauerlaeufer.org. Mehr unter www.mauerlaeufer.org.