Der Gemeindepräsident am Grenzzaun
Im Frühjahr standen die Menschen am Grenzzaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen und staunten: Eine geschlossene Staatsgrenze, das hatte es seit 1944 nicht mehr gegeben. Freunde, Familien und Bekannte waren plötzlich voneinander getrennt und verstanden die Welt nicht mehr. Wie die Museen mit den Monaten der Schließung und danach zurechtkamen, schildert der Chef der städtischen Museen, Tobias Engelsing.
Das war ein besonderer Anblick: Die monatelang geschlossenen Grenzübergänge zur Thurgauer Nachbarschaft, am Grenzbach patroullierende junge Schweizer Milizsoldaten, das Knattern eines Militärhubschraubers, der täglich die Grenzlinie abflog und uns AnwohnerInnen dabei sein großes, auf der Bauchseite prangendes Schweizerkreuz zeigte.
Seit 1944 hatten die Konstanzer keine Grenzschließung mehr erlebt. Beiderseits der Barrieren ging das öffentliche Leben in den Lockdown: In Schaufenstern der Geschäfte und Restaurants lagen Pappschilder „Wegen Corona geschlossen“, die Spielpläne von Theater und Südwestdeutscher Philharmonie wurden zu Makulatur, die Pforten der städtischen Museen blieben geschlossen.
Weltweit hoben die Beschwörungen an: Die Kultur sei wichtig, sie fehle so sehr. Das sagten vor allem die Kulturmacher und all die betroffenen Künstlerinnen und Künstler, die im Kulturbetrieb ihr Einkommen verdienen. Da und dort beklagte eine treue Museumsbesucherin, dass kein Museumsfest stattfand, keine feierliche Eröffnung der Jubiläumsausstellung zum 150. Geburtstag des Rosgartenmuseums. Aber die große Masse der Bevölkerung zog sich in die eigenen vier Wände zurück, kochte gut, leerte den Weinkeller, kramte alte Gesellschaftsspiele hervor und ließ die Glotze im Dauerbetrieb laufen. Ich hatte den Eindruck: Die Kultur hat den meisten Menschen nicht elementar gefehlt.
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Kein Vergleich zur letzten Grenzschließung: Nach Ende der Nazi-Diktatur und des Weltkrieges 1945 hungerten die Menschen nach Ausstellungen der bislang verbotenen Kunst, sie wollten freie Zeitungen lesen, literarische Lesungen jenseits des Blut-und-Boden-Kitsches hören. Sie strömten zu den teils spektakulären Aufführungen des Stadttheaters und zu kammermusikalischen Konzerten in Kirchen und Sälen. Das Rosgartenmuseum, dessen Bestände kriegsbedingt ausgelagert waren, konnte erst 1948 wieder öffnen.
Doch auch im kleinen Lockdown dieses Frühjahres dachten wir im Team der Museen darüber nach, wie wir trotz geschlossener Pforten zu unseren Besuchern gelangen konnten. Ines Stadie, Leiterin der Museumspädagogik des Rosgartenmuseums, griff nach der Dienstkamera, wir besorgten ein zusätzliches Mikro, eine Lichtblende und legten los: Der Tägerwiler Gemeindepräsident Markus Thalmann war einer unserer ersten „Videostars“. Ich interviewte ihn am geschlossenen Grenzzaun zur historischen Erinnerung im schweizerischen Grenzgebiet und zur aktuellen Lage, in der mehrere Tausend Pendler nur erschwert zu ihren Arbeitsplätzen beiderseits der Grenze gelangen konnten.
Diesem ersten wackligen und von bedenklicher Tonqualität geprägten Videoclip folgten weitere, viel bessere: Zu Pandemien in früheren Zeiten, zu Bauwerken, besonderen Kunstwerken, Jubiläen und merkwürdigen Daten der Regionalgeschichte. Aus einem kleinen „Corona-Clip“ wurde inzwischen eine zunehmend professioneller gefilmte Serie regelmäßiger Videobeiträge zu spannenden Themen unserer Museen. Auf diese Weise konnten wir auch unsere freiberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sonst von Gästeführungen und museumspädagogischen Workshops leben, weiter beschäftigen über so über die Runden bringen: Sie waren und sind die „Erzähler“ unserer laufend produzierten Videoclips. Eine Randnotiz an dieser Stelle: Die so oft verächtlich „etabliert“ genannten Kultureinrichtungen sind verlässliche Auftraggeber für die freie Kultur und die Kreativwirtschaft: Designerinnen und Werbefachleute, Übersetzerinnen, Vortragsgäste, Autorinnen und Autoren, Musikerinnen und Musiker und Ausstellungsdesigner arbeiten für Museen, Theater, Philharmonie und Kulturamt und sie haben in uns vertrauenswürdige Partner.
Hinter den Kulissen der geschlossenen Museen arbeiteten unsere Werkstätten weiter und sie tun das auch jetzt, im zweiten „Lockdwon light“: Neue Ausstellungen werden gebaut, das Museumskino erneuert, im Rosgartenmuseum eine komplett neue Abteilung der Dauerausstellung zum frühen 19. Jahrhundert gestaltet und eingebaut. Unser Schreinermeister Erich Lüttke konstruierte gemeinsam mit der Konstanzer Agentur Pragmadesign die wirkungsvoll grünen und doch elegant-dezenten „Präsentationsmöbel“ für die Jubiläumsausstellung „Schätze des Südens – Kunst aus 1000 Jahren“, die noch bis April läuft, aber derzeit wieder geschlossen ist.
In den wissenschaftlich und planerisch arbeitenden Büros dachten und denken wir jetzt darüber nach, was sich durch Corona ändern wird. Die großen Museen der Welt rechnen mit einem anhaltenden Rückgang der vielfliegenden Kulturtouristen, die auf ihren „Städtehoppings“ bisher den Louvre, das British Museum, die vatikanischen Sammlungen und die Uffizien „absolvierten“. Vom Trend zum Urlaub im Nahbereich werden wir, die kleineren kommunal getragenen Häuser, künftig voraussichtlich profitieren. Das zeigte sich in Ansätzen schon in den Sommermonaten, die dennoch nur vergleichsweise wenige Gäste in die Museen gebracht haben – es herrschte schlicht zu schönes Badewetter.
Gleichwohl stellen wir uns in unseren „Formaten“, wie man heute sagt, noch mehr auf unser Stammpublikum ein, das aus einem Radius von rund 100 Kilometern zu uns kommt. Die Kulturreisenden aus anderen Ländern werden nicht vernachlässigt: Ein mehrsprachiger Audioguide im Rosgartenmuseum und verstärkter Einsatz digitaler Vermittlungsformen belegen, dass wir an der Internationalisierung arbeiten. Aber auch jenseits der Reisesaison müssen wir Besucher ansprechen, wenn wir gute Besucherzahlen und damit auch Einnahmen erwirtschaften wollen. Dazu aber brauchen Kultureinrichtungen verlässliche Etats, denn nur attraktive „Produkte“ ziehen Besucherinnen und Besucher an.
Auf elementare Bedürfnisse unseres Stammpublikums zielt eine antizyklische Maßnahme gegen die Krise, die wir bereits realisiert haben: Das Museumscafé im Rosgartenmuseum wurde – unter anderem mit Spendenmitteln – um eine „Rosgarten-Lounge“ erweitert und stilvoll möbliert. Dort werden jetzt auch vegetarische Snacks aus heimischer Produktion angeboten: Die „Tägermooser-Quiche“, der „Säntis-Strudel“ und die „Fischerin vom Bodensee“ sind top-frische Angebote, die in der Mittagspause oder nach einem Ausstellungsbesuch schmecken.
Tobias Engelsing (Bild: Rosgartenmuseum)
Diesen hier leicht erweiterten Text schrieb der Autor für den „Konstanzer Almanach“ 2020, der dieser Tage erschienen und im Buchhandel erhältlich ist.