Der große Wumms
Der Bestseller-Politkrimiautor Wolfgang Schorlau wagt sich an ein Thema, das bis heute nicht abgeschlossen ist: Die Verwicklungen der Sicherheitsbehörden in die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Kein einfaches Unterfangen.
„Ein anschwellendes Zischen. Ssssssch. Es wurde lauter. Dengler sprang auf. ‚Was zum …‘ Dann ein dumpfer Knall. Wumms.“ Auch das noch. Gerade hat ihn Olga verlassen, weil er für einen Auftraggeber herausfinden soll, wer die zwei Rechtsradikalen Mundlos und Böhnhardt erschoss: Aus Mördern Opfer machen, das geht gar nicht, hat sie sich empört. Und jetzt explodiert ihm auch noch der Espressokocher. Die geliebte Frau weg und die Küche ein Kaffeesatz-Chaos. Olga kommt wieder, das kann getrost verraten werden, aber die ganzen 361 Seiten hindurch gibt’s für den Privatdetektiven Georg Dengler keinen Selbstgebrauten mehr. Und die Sauerei in seiner Küche ist gar nichts im Vergleich zu dem, was er bei seinen Recherchen vorfinden wird.
Lust auf den neuen Auftrag hat der einstige Zielfahnder des Bundeskriminalamts (BKA) allerdings nicht, denn die öffentliche Darstellung, nach der Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sich selbst umbrachten, scheint unstrittig. Da der anonyme Auftraggeber aber ausgesprochen gut zahlt, trägt Dengler eben zusammen, was er in Zeitungen findet und unter der Hand vom BKA bekommt. Doch auch daraus ergibt sich nichts Neues. Und so hat er seinen Schlussbericht bereits abgeschickt, als Olga ihn auf eine kleine, aber feine Ungereimtheit hinweist …
In welchem Staat leben wir eigentlich?
In seinem neusten, inzwischen achten Dengler-Krimi widmet sich der Stuttgarter Politthriller-Autor Wolfgang Schorlau den Verwicklungen der Sicherheitsbehörden in die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU); in den Fokus rückt er dabei die Ereignisse des 4. November 2011, jenes Tages, an dem Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfall in ihrem Campingmobil gestellt wurden. Die Recherchen dazu hatten ihm schon im Vorfeld Bauchschmerzen bereitet: Er leide an „Erkenntnisfurcht“, sagte er vor einiger Zeit (siehe Das ganze Ausmaß der Sauerei). Zwar hat der Bundestag vor kurzem die Einsetzung eines zweiten Untersuchungsausschusses beschlossen, und auch der Prozess gegen Beate Zschäpe, neben Mundlos und Böhnhardt die Dritte im sogenannten NSU-Trio, ist noch in Gang. Doch das Bild, das sich abzeichnet, ist beunruhigend, da die Aufklärung hintertrieben, Spuren verwischt, falsche Fährten gelegt wurden und Zeugen umkamen.
Und so schlägt sich auch Dengler mit der Frage herum: In welchem Staat leben wir eigentlich? Als er, vom detektivischen Ehrgeiz endlich gepackt, den Tod der beiden Neonazis untersucht, wissen die LeserInnen schon gut Bescheid: Der Hintergrund, vor dem Staatsschützer und Rechtsradikale zusammenfanden, ist skizziert, die tragenden Figuren sind vorgestellt. Zum Beispiel Klaus-Dieter Welker, der als stellvertretender Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz ungehindert bestimmt, wer den Vorsitz des (ersten) Bundestags-Untersuchungsausschusses zum NSU übernimmt, und gleichzeitig eine gigantische Aktenvernichtung veranlasst. Oder Marius Brauer, Kriminaloberkommissar des Landeskriminalamts Thüringen und einstiges Mitglied der gegen Rechtsextremismus ermittelnden Sonderkommission Rex, der zu viel weiß und seither unter Bewachung steht. Was Dengler nun an schier Unglaublichem entdeckt (auch dank eigenständiger Ermittlungen des Autors), muss hier aus Respekt vor dem Genre verschwiegen werden.
Ermittlung ganz nah an der Wirklichkeit
Schorlau hat seinen Detektiv ganz nah an der Wirklichkeit ermitteln lassen. Viele Begebenheiten, Personen, Organisationen und Zusammenhänge lassen sich durch einen Blick ins Internet leicht rekonstruieren (etwa der Fall des Sebastian Edathy alias Omani); das behindert den Lesefluss, Gedächtnis und Erkenntnis beflügelt es aber ungemein. Schorlau lässt Dengler – und damit die LeserInnen – zudem Originalprotokolle, Tatortfotos und Ermittlungsberichte unter anderem der Kriminalämter und Untersuchungsausschüsse sichten. Dass sich dabei Realität und Fiktion mischen – und nur durch 73 Fußnoten wieder getrennt werden können -, macht die Lektüre streckenweise recht mühsam. Und doch ist es das, was den Krimi vorantreibt und Spannung erzeugt: Mit Dengler decken wir Schritt für Schritt die Ungereimtheiten und Lügen auf, die sich in den Dokumenten offenbaren.
Wolfgang Schorlau nimmt in „Die schützende Hand“ nur einen kleinen Ausschnitt des komplexen Sachverhalts genauer unter die Lupe, und schon das führt zu einer großen Materialfülle, die untergebracht sein wollte. Dass dabei die Ausarbeitung von Figuren und Handlung hie und da dünn (sogar schräg) gerät, entschuldigt, wer – wie ich – froh ist, mit Denglers Hilfe wenigstens diesen Teil der NSU-Verbrechensgeschichte besser einordnen zu können.
Mehr als nur eine gute Geschichte
Dass Schorlau seinen LeserInnen viel abverlangt (auch Vertrauen), war ihm bewusst. Aber es gehe eben, schreibt er im Nachwort, „um mehr als eine gute Geschichte, es geht um die Suche nach Wahrheit“. Durch die Vernebelungstaktik der Sicherheitsbehörden sind Wahrheiten allerdings rar, was der Spekulation viel Raum verschafft und leicht den Vorwurf provoziert, es handle sich um eine Verschwörungstheorie. Da nützt es eigentlich wenig, wenn Schorlau diese Kritik vorwegnimmt, indem er einen aufrechten BKA-Mann sagen lässt: „(…) wenn in einer validen Theorie eine Verschwörung auftaucht, sollte man in Betracht ziehen, dass es sie auch gibt“. Die haarsträubende Entstehungsgeschichte des Bundesnachrichtendiensts und die (inzwischen aufgelösten?) paramilitärischen Stay-Behind-Organisationen der Nato sind allerdings Fakt; und Schorlaus Thesen zum Tod von Mundlos und Böhnhardt – auch zur großen Frage nach dem Warum – sind so plausibel, dass vor den Augen der LeserInnen die Selbstmordthese mit einem großen Wumms zusammenkracht.
Brigitte Matern
Wolfgang Schorlau „Die schützende Hand“, KIWI-Paperback, Köln 2015, 14,99 Euro.
Am 10. 12. ist Schorlau im Rahmen der SWR-Reihe „Autor im Gespräch“ um 20 Uhr im Singener Rathaus zu Gast. Auf Einladung der VHS kommt er am 6. April 2016 zu einer Lesung nach Konstanz.