Der Schriftsteller, das Chamäleon und das Berufsverbot (III)

Jochen Kelter, im nahen Ermatingen lebender deutschstämmiger, aber längst mit ganzem Herzen eingeschweizerter Schriftsteller, zieht eine Zwischenbilanz seines Lebenspfades. Ein Geplauder über das Bahnhofsbüffet in Olten, wo sich Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt nie trafen, über Literaturzeitschriften in der Bodensee-Region und einen legendären schweizerischen Schriftstellerverein. Außerdem geht es um die lieben Kollegen – die, die Erfolg hatten, und die, die ihn verdient gehabt hätten.

seemoz: Ihr macht ja derzeit den neuen „Mauerläufer“, der dieser Tage erscheint, aber das ist wohl nicht das einzige Projekt einer Literaturzeitschrift, an dem Du in der Region hier beteiligt warst?

Kelter: Ich habe damals auch bei Univers mitgemacht.[1] Die Gründung dieser Zeitschrift, die an der Universität erschien, ging auf die Initiative eines Englischlektors zurück, ich glaube es war David Henry Wilson vom Lehrstuhl Iser. Der ging aber irgendwann zurück nach England, und dann haben wir die Zeitschrift übernommen, vermutlich aber nicht in seinem Sinne. Er ist sehr brav gestartet, aber wir waren nicht mehr so brav, wie er sich das wohl vorstellte.

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seemoz: Ihr, das waren Peter Salomon, Hermann Kinder, Karin Reschke und Du?

Kelter: Ja, und noch ein paar andere.

seemoz: Wie war damals Eure inhaltliche Ausrichtung, ich nehme mal an, dass der Titel „Univers“ ja nicht nur auf das Universum, sondern auch auf die Nähe zur Universität verweisen sollte?

Kelter: Wir waren natürlich links, mehr oder weniger. Das war klar. Wir haben Autoren publiziert, deren Auftritte verboten waren, etwa Peter-Paul Zahl und ein paar andere in dieser Richtung, da kriegten wir natürlich mit der Uni-Verwaltung Probleme. Damals hat mir sogar mein Lehrer Jauß geholfen, indem er etwas bei Univers publiziert hat. Aber eine Redaktion ist immer ein Kompromiss, dazu gibt es einfach viel zu viele unterschiedliche Meinungen.

seemoz: Wie kam es denn zum Mauerläufer, dem derzeitigen Literaturmagazin aus der Region?

Kelter: Der ist aus der Meersburger Autorenrunde entstanden, die eine Anthologie herausgegeben hat. Sie haben sich dann irgendwann gedacht, dass sie vielleicht doch ein bisschen mehr machen könnten, als alle Jubeljahre mal eine Anthologie herauszugeben. Ich habe mich dem angeschlossen. Ich kannte in dieser Autorenrunde praktisch niemanden, und es war mir von Anfang an wichtig, dass im Mauerläufer nicht zwangsläufig Autoren der Autorenrunde vertreten sind, und dass die Autorenrunde keinen automatischen Zugriff auf die Redaktion des Mauerläufers hat. Ich als Thurgauer vertrete dort die Schweizer Autoren, nicht die üblichen Bodenseepflanzen.

Mauerläufer-Redaktion, v.l.n.r.: Christa Ludwig, Jochen Kelter, Katrin Seglitz, Hippe Habasch, Hanspeter Wieland, Eva Hocke (Grafikerin).

seemoz: Auf welches Deiner Bücher bist Du eigentlich am stolzesten?

Kelter: Immer auf das nächste! Das liegt in der Natur der Sache. Meinen neuen Gedichtband halte ich für einen meiner besten. Der Verlag, der meine letzten drei Bücher herausgebracht hatte, hat – vermutlich aus handfesten wirtschaftlichen Gründen – fusioniert und ist aus Frankfurt nach Zürich umgezogen. Die erste Konsequenz der Fusion war, dass dieser Verlag keine Lyrik mehr publiziert. Mein aktuelles Buch ist daher jetzt gerade im neuen Caracol Verlag im Thurgau erschienen.[2] Ich habe aber auch schon im Waldgut Verlag meines Freundes Beat Brechbühl publiziert.

seemoz: Welche derzeit aktiven Lyriker schätzt Du denn besonders? Es gab ja vor einiger Zeit diesen Wundervogel Jan Wagner, dessen Lyrik sich wie geschnitten Brot verkauft hat.

Kelter: Das ist Gartenlaubenromantik, anders sind solche Auflagen auch nicht zu schaffen. Als er den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, war das glaube ich sein 23. Preis. Du kriegst einen Preis, wenn Du schon Preise gewonnen hast. Und den ersten Preis kriegst Du, weil Du gut vernetzt bist, oder Dein Verleger etwas für Dich getan hat. Genauso hat Herta Müller ihren Nobelpreis bekommen.[3] Dahinter muss eine Mafia gestanden haben …

seemoz: Welche Kolleginnen und Kollegen schätzt Du denn?

Kelter: Ich habe zum Beispiel Christoph Meckel, der jüngst verstorben ist, sehr geschätzt, nicht nur als Lyriker. Großartig ist sein Buch über seinen Nazi-Vater. Ich schätze auch den Schweizer Lyriker Klaus Merz sehr und natürlich Volker Braun. Urs Faes, den Romancier, halte ich für einen sehr guten Autor. Unter den Älteren verdienen beispielsweise Günter Seuren und Hermann Peter Piwitt viel mehr Beachtung und LeserInnen.

seemoz: Du als Autor wurdest dann auch in Autorenverbänden aktiv?

Kelter: Irgendwann in den achtziger Jahren haben mir schweizerische Schriftstellerkollegen die Geschäftsführung ihres Verbandes angetragen. Ich habe lange vor allem von meiner Verbandstätigkeit gelebt. In der Schweiz gab es zwei Autorenverbände, einen rechten und einen linken. Wir von der Gruppe Olten waren der linksnationale Verein. Die anderen waren der viel größere Schweizerische Schriftstellerverein, der ziemlich rechts war und noch 1959 die Bespitzelung linker Intellektueller zuließ.[4]

Die Gruppe Olten waren Schriftsteller, die aus diesem Verein ausgetreten waren. Wir trafen uns im Bahnhofsbuffet in Olten, weil das ein zentraler Eisenbahnknotenpunkt der Schweiz ist. Die Gruppe bestand also aus Dissidenten, daher waren alle dabei, die in der Schweiz einen Namen hatten, neben anderen Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Franz Hohler, Ich war zusätzlich auch 14 Jahre lang Präsident des European Writers Congress, des Dachverbandes der europäischen Schriftstellerverbände.

seemoz: Was macht eigentlich der Geschäftsführer eines Autorenverbandes?

Kelter: Der macht Politik, und das hat den Linksnationalen damals ganz gut getan. Man darf nicht vergessen, dass noch 1992 bei der Abstimmung über den schweizerischen Beitritt zum EWR[5] der Schriftsteller und Verlagsleiter Otto F. Walter sagte, „geht’s noch, dann macht ja das deutsche Fernsehen unseren Dialekt kaputt“.

Bei meiner Tätigkeit ging es vor allem um Kulturpolitik, um Subventionen, um Urheberrechte und Tantiemen. Ich hatte viel mit dem Institut für geistiges Eigentum, genannt “ für geistige Enteignung“, und dem Bundesamt für Kultur zu tun. Ich war auch Präsident von Suisseculture, der Dachorganisation aller Urheberverbände, also der Komponisten, der Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Fernsehjournalisten usw.

Außerdem gibt es ja noch die Verwertungsgesellschaften, die in der Schweiz „Urheberrechtsgesellschaften“ heißen. Dazu zählt Pro Litteris, dessen Präsident ich auch einmal war. Bei dieser Arbeit ging es oft um juristische Fragen, und ich habe mich lange unter Juristen wohler gefühlt als unter Kollegen, denn Juristen sind wesentlich einfacher und zum Glück keine Künstler. Ich war oft der einzige Nichtjurist unter lauter Juristen.

Working Group on Poetry des European Writers’ Congress (EWC), Helsinki frühe 2000er Jahre. V.l.n.r.: Claude Darbellay, Gruppe Olten, CH; Jarkko Laine, Präsident des finnischen Schriftstellerverbands; Lore Schulz-Wild, Generalsekretärin des EWC; Päivi Liedes, Generalsekretärin des finnischen Schriftstellerverbands; Jochen Kelter; die Präsidentin des schwedischen Schriftstellerverbands in Finnland; Arie van den Berg, Vereniging van Letterkundigen, NL.

seemoz: Apropos Künstler – wie stelle ich mir eigentlich ein Schriftstellertreffen vor? Knallen dort 20 oder 50 Egos aufeinander?

Kelter: Natürlich, aber die Gruppe Olten hatte immer etwas sehr Familiäres. Zu meiner Zeit, also von 1988-2002, hatte die Gruppe etwa 300 Mitglieder und war eine große linke Familie. Zur Zeit des Fichenskandals galt es in der Gruppe als ehrenrührig, keine Bespitzelungsakte zu haben. „Deine Akte ist ja viel dicker als meine,“ sagte jemand voller Neid zu mir. Das hielt die Gruppe zusammen.

seemoz: Je größer der Schriftsteller, desto größer das Ego?

Kelter: Nein, es gibt auch unter Schriftstellern wie überall unsympathische und sehr nette Menschen.

seemoz: Ein Frisch oder ein Dürrenmatt konnten damals sicher gut als freie Schriftsteller von ihren Werken leben?

Kelter: Ja, und ein Franz Hohler als Kabarettist natürlich auch. Aber schon für Schriftsteller wie Urs Faes, der ein hervorragender Romanautor ist, wird es finanziell schwierig.

seemoz: Da trafen sich die großen Männer der Schweizer Literatur?

Kelter: Frisch war dabei, Dürrenmatt aber nicht. Vermutlich, weil Frisch dabei war, ihr Verhältnis war nicht ganz ungetrübt. Frisch war gelernter Architekt. Er hat zum Beispiel ein Schwimmbad in Zürich gebaut. Nachdem er dann mit seinem Roman „Stiller“ Mitte der fünfziger Jahre Erfolg hatte, konnte er die Architektur aufgeben. Ich hatte auch mit Peter Bichsel zu tun …

seemoz: Freunde wart Ihr beide nicht?

Kelter: Man musste halt ab morgens um zehn mit ihm mittrinken können, aber sonst kam ich gut mit ihm aus. Ebenso mit Franz Hohler, dem guten Menschen von Oerlikon. Max Frisch wollte auf seine alten Tage aufräumen, mit allem abschließen und auch aus der Gruppe Olten austreten. Das wäre natürlich ein schwerer Schlag für uns gewesen. Franz Hohler hat es dann übernommen, ihn umzustimmen. Er hat ihn angerufen, als Frisch gerade sein letztes Stück fertig geschrieben hatte, über die Abschaffung der Armee, als es damals die Armee-Abschaffungs-Abstimmung gab.[6] Hohler hat dem Max Frisch klargemacht, dass ein Austritt aus der Gruppe Olten in dieser Situation die gesamte schweizerische Linke massiv schädigen würde, und Frisch blieb uns treu.

Es war übrigens überraschend, wie viele Stimmen es damals für die Abschaffung der Armee gab. Doch der Vater meiner Freundin, ein linker Arbeiter, fand, dass das alles viel zu weit ginge. „Wir haben damals Aktivdienst geleistet. Wir hätten zwar, wenn die Deutschen gekommen wären, als erstes unsere eigenen braunen Offiziere umgelegt, das schon, aber ich musste Aktivdienst leisten, und die wollen heute die Armee abschaffen!“

seemoz: Was waren denn deine größten Erfolge als Kulturfunktionär?

Kelter: Die Revision – in Deutschland sagt man „Novellierung“ – des Urheberrechts, die 1993 nach 35 Jahren abgeschlossen worden ist. Mittlerweile ist sie schon wieder in der Novellierung. Wir haben damals aber nicht alles gekriegt, was wir haben wollten. Zum Beispiel eine Bibliothekstantieme, wie Ihr sie hier in Deutschland habt. Oder die Geräteabgabe für Fotokopierer. Bei Euch ist auf dem Gerät eine Gebührenmarke drauf, bei uns in der Schweiz müssen dafür jedes Jahr noch eigens 45.000 Rechnungen geschrieben werden.

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seemoz: Du warst auch im VS aktiv, der 1969 gegründeten Schriftstellergewerkschaft.

Kelter: Da habe ich es sogar bis zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden gebracht und war für auswärtige Angelegenheiten zuständig. Mein Vorgänger meinte: „Auf diesen Posten muss jemand, der eine Fremdsprache kann, aber den findest Du doch nicht hier in der Gewerkschaft.“

In den achtziger Jahren begannen dann die großen Kräche im VS. Die Berliner Fraktion war ein einziger Haufen von Frontstadtkämpfern und Fundamentalisten. Grass an erster Stelle, der auch als Mensch ein Ekel war.

seemoz: Nobelpreis, Sozi und so …

Kelter: Ach was, einfach ein Egozentriker. Jahrestagung des VS, sieben Autoren sollen lesen, jeder 7 Minuten, Günter Grass liest natürlich 25 Minuten. Irgendwann begann dann der offene Streit mit denen. Wir vom Vorstand waren damals zu zweit auf Dienstreise in Moskau, nachdem wir viele Jahre lang keinen Kontakt zum Verband der UdSSR mehr gehabt hatten. Als wir nach Hause kamen, mussten wir in der Zeitung lesen: Während die sowjetischen Autoren im Gulag geknechtet werden, trinken diese Opportunisten mit den sowjetischen Bonzen Sekt. Ich bin aus dem VS 1987 wieder ausgetreten.

Das Gespräch mit Jochen Kelter führte Harald Borges, Bilder: Privatbesitz; Bild ganz oben fotografiert von Isolde Ohlbaum.


Jochen Kelter liest

– Mittwoch, 21. Oktober, um 20.00 Uhr in der Buchhandlung Homburger & Hepp, Münsterplatz 7, in Konstanz, Eintritt frei. Eine Voranmeldung persönlich oder unter Tel. +49-7531-90810 ist erforderlich.
– Freitag, 23. Oktober, um 19.00 Uhr im Kunstmuseum Singen, Ekkehardstraße 10, Singen, Eintritt frei. Für die Teilnahme bedarf es einer Anmeldung unter +49 (0)7731 85-269 oder per E-Mail hier.


Anmerkungen

[1] Univers erschien 1974-1981. Siehe: Peter Salomon, Univers. Zur Geschichte einer Konstanzer Literaturzeitschrift 1974-1981, Eggingen 2007.

[2] Jochen Kelter, Fremd bin ich eingezogen. Gedichte, Caracol Verlag, Warth, 2020, 20,- CHF/Euro, ISBN 978-3-907296-02-8.

[3] Herta Müller, Nobelpreis 2009.

[4] Nähere Informationen zum anderen Verband finden sich hier.

[5] Europäischer Wirtschaftsraum, eine Freihandelszone, zu der die EU-Staaten sowie Island, Liechtenstein und Norwegen gehören – das Schweizer Stimmvolk lehnte am 6. Dezember 1992 bei einer ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung den Beitritt der Schweiz ab.

[6] Schweiz ohne Armee? Ein Palaver (1989).


Die anderen Teile dieses Gesprächs

06.10.20 | Teil I
07.10.20 | Teil II
09.10.20 | Teil IV