Der Zwei-Klassen-Kleist
Am Sonntagnachmittag lud das Stadttheater Konstanz zu einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „Erzählen Sie mir (k)eine Geschichte“ in das Foyer der Spiegelhalle. Kernfrage der Runde mit gut 50 Gästen war, wie mit klassischen Stoffen im Theater umgegangen werden soll: „Regietheater oder Werktreue?“ Es diskutierten Oberspielleiterin Johanna Wehner, SK-Feuilleton-Chef Johannes Bruggaier und die Regisseure Mark Zurmühle und Michael von zur Mühlen.
Letzterer hatte das für viel Gesprächsstoff sorgende Stück „Der zerbrochene Krug“ in dieser Spielzeit inszeniert. Einer der selbsternannten Experten sprach von einem „Chaos“ und dass viele Zuschauer von der Inszenierung „entsetzt“ gewesen seien.
Historischer Kontext, nein danke
Schon zu Beginn der Runde schienen Moderation, Gäste und Publikum zu der stillen Übereinkunft gekommen zu sein, dass die Interpretation des „Zerbrochenen Krugs“ von Michael von zur Mühlen noch ordentlich Zündstoff bieten würde. Daher beschränkte man sich zunächst auf die Frage, was denn überhaupt ein Klassiker sei. Denn, wie Johanna Wehner feststellte, redeten zwar alle Menschen von Klassikern und meinten zu wissen, was damit gemeint sei, jedoch erfolgte keine tatsächliche Auseinandersetzung, was dazu führe, dass jeder unter einem Klassiker etwas anderes verstehe. Worin sich allerdings alle Diskutierenden einig waren, war, dass „klassisch“ immer einen zeitlich-historischen Bezug habe, also etwas sei, das die Zeit überdauert und das stets neue Erkenntnisse für die jeweilige Gesellschaft in sich birgt.
Der zeitliche Horizont war auch der Punkt, an dem zum ersten Mal auf den „Zerbrochenen Krug“ (s. Foto aus der diesjährigen Aufführung im Stadttheater Konstanz) Bezug genommen wurde. Bruggaier meinte, er wäre sich nicht sicher, ob sich Kleist (wie auch seemoz berichtete) bei einer Inszenierung wie der von zur Mühlens tatsächlich im Grabe umgedreht hätte oder gar nicht eher bei einer Darbietung, die das Stück so zeigte, wie er es zu seiner Zeit intendiert hatte. Gewisse Inhalte seien einfach nicht mehr zeitgemäß und würden bei den Zuschauern, wenn man sie originalgetreu wiedergäbe, zu Verwirrung und einer „Gefahr der Lächerlichkeit“ führen. Damit sprach Bruggaier dem Theaterbesucher zunächst jede Fähigkeit ab, einen Klassiker in seinem historischen Kontext zu betrachten.
Ist das nicht eigentlich gerade das, was man in unzähligen Deutschstunden lernt? Die Entstehungszeit des Stücks in seine Interpretation mit einzubeziehen? Damit noch nicht genug: Der Kulturredakteur lobte die Kleist-Inszenierung für seine „provozierende Überhöhung der Werktreue“ und die Darstellung eines „unsinnigen Glaubens“ an eine lange überlieferte Leitkultur. Es schien, als müsse man Kleists Drama schon einige Male gelesen und gesehen haben, um diese Regieleistung würdigen zu können.
Inspiration Oma
Immerhin meldete sich dann auch der Regisseur selbst zu Wort und erklärte, wie er zu dieser Auslegung des Stoffs gekommen sei. Theater betrachte er als „Zeitkunst“, weswegen es für ihn wichtig wäre, auch die klassischen Stoffe in aktuelle Kontexte zu setzen, beziehungsweise neue Erkenntnisse daraus zu ziehen. Nach eingehender Beschäftigung mit Kleists Werk sei er zu dem Schluss gekommen, dass auf der Handlungsebene der Konflikte zwischen den Figuren keine „Sprengkraft“ mehr vorhanden sei. Sowohl Machtmissbrauch als auch sexueller Missbrauch seien Dinge, die die Menschen nicht mehr empörten. „Jeder weiß, dass Dominique Strauss-Kahn ein Arschloch ist und dass Gerhard Schröder ein Arschloch ist.“
Folglich habe er sich auf eine höhere Ebene begeben und eine „Meta-Inszenierung“ gemacht. Inspirationsquelle hierfür sei seine Großmutter gewesen, die als gebildete Tochter aus gutbürgerlichem Hause in vielen Ländern gelebt, viele Systemwechsel erlebt und teilweise mitgemacht habe, und in ihren späten Jahren in ihrem Ohrensessel saß, Schumann hörte und dabei auf idealisierende und bewundernde Weise Kleist rezitierte, stets von der wunderbaren Sprache schwärmend.
Von zur Mühlen sah das als unglaublich konservativen Akt – die Verherrlichung eines Textes, von dem kaum einer verstehe, was er wirklich bedeute und das alles nur wegen der geschwollenen Ausdrucksweise. Daher ließ er sein Ensemble eben nur die leeren Worte mit eigenartigem Pathos rezitieren, ohne eine tatsächliche Handlung in das Stück zu bringen. Die Rezitation aus Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ in der zweiten Hälfte des Stücks und das hellenistisch anmutende Bühnenbild sollten Anspielungen auf die vorherrschende Debatte über eine europäische Leitkultur darstellen.
Theater gegen das Bürgertum für das Bürgertum?
Ein Zuschauer beschwerte sich erzürnt, er fühle sich im Nachhinein von von zur Mühlens Großmutter „vergewaltigt“, so wie der Regisseur das Stück „zerstückelt“ und „zerfetzt“ habe. Johanna Wehner warf er vor, sie würde diese Dekonstruktion des Stücks wahrscheinlich noch als Metapher für den „Zerbrochenen Krug“ interpretieren. Mehrfach wurde Unverständnis geäußert, warum sich der Regisseur nicht einem anderen Stück gewidmet habe. Der entgegnete, er wollte lediglich den bürgerlichen Umgang mit Kunst, den eben auch seine Großmutter pflegte, kritisieren. Eben diese Kritik scheint aber nur von wenigen ‚Gebildeten‘ verstanden worden zu sein, beispielsweise von einer Dame, die berichtete, sie habe sich vor Betrachtung des Stücks eingehend mit Nietzsche und den Pathosformeln Warburgs beschäftigt. In von zur Mühlens Werk habe sie Parallelen zu beidem erkannt, weswegen sie die Inszenierung als äußerst gelungen empfand.
Ob es also das Bildungsbürgertum, das hier kritisiert werden sollte, tatsächlich nicht mehr gibt, weil das total 68er sei, wie eine Besucherin anmerkte, darf bezweifelt werden. Vielmehr entsteht der Anschein, dass der Regisseur das Paradox seiner eigenen Arbeit nicht erkannt hat. Er wollte doch den Bewunderer einer als Kunstwerk gelobten, aber eigentlich bedeutungslosen weißen Leinwand mit seiner eigenen Dummheit und seinem Mitläufertum konfrontieren. Stattdessen meint gerade jener die Inszenierung verstanden zu haben, während sie sich bei allen ‚Nicht-bürgerlichen‘ jeglicher Interpretation entzieht.
Carla Farré
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02.03.16 | Ist das Kleist oder kann das weg?
Clemens Brentano an Achim von Arnim, Berlin den 3. Februar 1816: »Was den Kleist besonders kurios macht, ist sein Rezept zum Dialog, er denkt sich alle Personen halb taub, und dämelich, so kömmt dann durch Fragen und Repetiren der Dialog heraus. Es dürfte ein Schauspieler nur einmahl recht laut schreien, so käme gleich die größte Unwahrheit ins Gespräch.«
Danke dafür, dass Sie das Paradox auf den Punkt bringen. Nur das in der Tradition der Leitkultur bewanderte Bildungsbürgertum, wozu der Regisseur ausweislich seines Werks durchaus auch gerechnet werden darf, konnte diese Inszenierung verstehen. Wer aber mit dem, was da dekonstruiert werden sollte, nichts mehr am Hut hat, der verließ das Theater ziemlich ratlos.
Ralph R. Braun