Die Geige aus Cervarolo

Gerechtigkeit hat kein Verfallsdatum – Der italienische Dokumentarfilm «Il violino di Cervarolo» («Die Geige aus Cervarolo») will die Erinnerung an von Deutschen während der Besatzung Italiens begangene Verbrechen wachhalten. Er läuft im Januar in St.Gallen und Zürich. Vorher gibt es eine kurze Einführung in den historischen Kontext und danach bietet sich Gelegenheit zur Diskussion mit dem Filmemacher Matthias Durchfeld vom Resistenza-Institut (Istoreco) der Provinz Reggio Emilia.

Als 1962 der italienische Spielfilm «Die vier Tage von Neapel» von Nanni Loy in deutschen Kinos anlief, löste er Empörung aus. Weil er deutsche Wehrmachtsangehörige als Täter zeigte, die in Italien willkürliche Erschiessungen, brutal durchgeführte Deportationen und entsetzliche Grausamkeiten begingen, nachdem der ehemalige Bündnispartner Italien im September 1943 aus dem Krieg geschieden war. Dem Mythos vom «sauberen Krieg an der Südfront» konnte der Film aber nichts anhaben. Bis heute hat sich die Geschichtsfälschung behauptet, die deutsche Wehrmacht habe – wenn überhaupt – lediglich in der Sowjetunion eine verbrecherische Kriegsführung praktiziert.

Um nicht zu vergessen

Das macht 67 Jahre nach Ende des Krieges den Film «Il violino di Cervarolo» («Die Geige aus Cervarolo») von Nico Guidetti und Matthias Durchfeld so aktuell. Er erzählt von den BewohnerInnen des kleinen Dorfes Cervarolo in der Emilia Romagna im nördlichen Apennin, die am 20. März 1944 Opfer eines von deutschen Truppen verübten Massakers wurden. Als «Sühnemassnahme» für die Präsenz von Partisanengruppen in der Umgebung hatten Einheiten der Fallschirm-Panzerdivision «Hermann Göring» – unterstützt von italienischen Faschisten – vorher bereits Massaker an den EinwohnerInnen der umliegenden Dörfer begangen. Nun fielen sie in Cervarolo ein, trieben 24 Männer aus ihren Häusern und erschossen sie. Danach wurden Frauen vergewaltigt und Häuser in Brand gesteckt. Der Film erzählt vom damaligen und heutigen Leben der Angehörigen der Opfer des Massakers, lässt ZeitzeugInnen zu Wort kommen und zeigt Ausschnitte aus dem Prozess, der in Verona gegen ehemalige Mitglieder der deutschen Wehrmachtseinheit geführt wurde. Protagonist ist Italo Rovali, Sohn eines Geigers, der durch das Massaker seinen Grossvater und seinen Onkel verlor. Rovalis langjährige Nachforschungen haben den Prozess erst möglich gemacht. MitarbeiterInnen des Geschichtsinstituts Istoreco der Provinz Reggio Emilia begleiteten die BewohnerInnen von Cervarolo durch das Verfahren und filmten alle 41 Prozesstage zu Dokumentationszwecken – «Il violino di Cervarolo» ist ein Ergebnis dieser Arbeit.

Il Violino di Cervarolo (Die Geige aus Cervarolo),
Nico Guidetti / Matthias Durchfeld, I 2012; 75′, Italienisch mit deutschen Untertiteln
Freitag, 11. Januar: St. Gallen
Kinok, 19.30 Uhr
Sonntag, 13. Januar: Zürich
Kino Xenix , 14.30 Uhr
Vor dem Film wird ein kurzer Überblick zum historischen Kontext und den aktuellen Prozessen gegeben, danach steht der Regisseur Matthias Durchfeld für Fragen und zur Diskussion zur Verfügung.

Im Juli 2011 wurden sechs Männer dieser Einheit in Abwesenheit zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Drei sind im Oktober 2012 in zweiter Instanz freigesprochen worden, die anderen Urteile wurden bestätigt. Eine Inhaftierung droht den Tätern jedoch nicht, da Deutschland die Verurteilten nicht ausliefert.

Blanko-Befehle zum Töten

Die Liste der während der deutschen Besatzung Italiens von Wehrmacht und SS begangenen Massaker an der Zivilbevölkerung ist lang. Etwa 10 000 ZivilistInnen wurden zwischen September 1943 und April 1945 im Rahmen der sogenannten «Bandenbekämpfung» umgebracht.

Nur wenige der NS-Verbrechen wurden nach Kriegsende verfolgt. Aus dem anfänglichen Vorsatz der Alliierten, bis zu 60 000 TäterInnen vor Gericht zu stellen, gingen in den Westzonen nur wenige Anklageerhebungen hervor. Und: Je später der Prozess angesetzt war, desto milder fiel die Bestrafung aus. Bereits vor dem Hintergrund des einsetzenden Kalten Krieges und eher widerstrebend abgehalten fand 1947 in Venedig vor einem britischen Militärgericht der Prozess gegen Generalfeldmarschall Albert Kesselring statt. Er war ab November 1943 Oberbefehlshaber in Italien und verantwortlich für Blanko-Befehle zum Töten auch von unschuldigen Frauen und Kindern. Er wurde zunächst zum Tode verurteilt, gleich darauf zu lebenslänglicher Haft begnadigt und 1952 entlassen: Seine Entlassung war ein erfolgreiches Ergebnis einer breiten Pressekampagne, die in der Forderung «Nicht Gnade, sondern Recht» gipfelte. Als Gegenleistung für ihre Mitarbeit am Aufbau deutscher Streitkräfte sollte die Wehrmacht rehabilitiert werden.

Nachdem die westlichen Alliierten ihr Programm zur Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen eingestellt hatten, wurden viele Ermittlungsunterlagen den italienischen Behörden ausgehändigt. Zunächst mit Blick auf die eigenen Kriegsgefangenen auf dem Balkan, später aus Rücksichtnahme auf den Nato-Partner Deutschland, wurde in Italien auf die Eröffnung von entsprechenden Verfahren jedoch verzichtet. Die über 700 Aktenbündel kamen in der Militärstaatsanwaltschaft von Rom unter Verschluss und wurden dort «provisorisch archiviert». Als sie 1994 zufällig in einem Aktenschrank, dem «Schrank der Schande», entdeckt wurden, begann die späte Aufarbeitung, die zu einer Reihe von Prozessen führte.

Kein Schleier des Vergessens

In Deutschland sorgte im Jahr 1968 ein unscheinbares Gesetz (Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz) für eine kalte Amnestie: Es setzte die Verjährungsfrist für Mordgehilfen, damals jene Personen, denen «besondere persönliche Motive» an der Tat nicht nachgewiesen werden konnten, auf fünfzehn Jahre herunter. Was zur Folge hatte, dass viele NS-Verbrechen bereits seit dem Jahr 1960 verjährt waren.

Während das Landgericht München im Jahr 2010 Josef Scheungraber wegen seiner Beteiligung am Massaker von Falzano di Cortona (Toskana) zu lebenslanger Haft wegen zehnfachen Mordes verurteilte, stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart die Ermittlungen zum ganz ähnlich gelagerten Massaker in Sant’Anna di Stazzema im Oktober 2012 ein. Der kleine toskanische Ort war am 12. August 1944 Schauplatz eines der grössten und grausamsten Massaker, das deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg verübten und dem mindestens 560 wehrlose Frauen, Kinder und alte Menschen zum Opfer fielen. Die zehn Jahre andauernden Ermittlungen hatten bereits vorher den Verdacht aufkommen lassen, man setze in Stuttgart auf eine rein «biologische Lösung»: Schliesslich waren seit Beginn der Ermittlungen bereits mehrere der Beschuldigten verstorben. Der Einstellungsverfügung ist nun zu entnehmen, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass es sich um eine aus dem Ruder gelaufene Aktion im Rahmen der gezielten Bandenbekämpfung gehandelt habe (seemoz berichtete: Der Staatsanwalt und das Massaker von Stant‘ Anna di Stazzema).

In einem Interview hat der Militärstaatsanwalt in Turin, Dr. Pier Paolo Rivello, erklärt: «Es geht [bei diesen Prozessen] auch darum, Klarheit darüber herzustellen, was passiert ist. Über diese Ereignisse sollte nicht der Schleier des Vergessens gelegt werden. Eine Funktion solcher Prozesse ist es auch, mittels der gesammelten Dokumente und Zeitzeugenberichte Geschichtsfälschungen zu verhindern.» Deshalb sind Filme wie «Il violino di Cervarolo» so wichtig.

Autorin: Sabine Bade/WOZ

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