Die kannibalische Ordnung
Er ist wohl einer der bekanntesten Kritiker der bestehenden Machtverhältnisse und genießt international viel Ansehen. Also beschloss der Bildungsverein seemoz e.v., den Schweizer Soziologen Jean Ziegler zu einem Vortrag nach Konstanz einzuladen, um über die wachsende soziale Ungleichheit in diesen Krisenzeiten zu referieren. Aus Zeitgründen kann der 2006 mit dem Heckerhut der Konstanzer SPD ausgezeichnete Politiker und Autor nun leider nicht kommen – dafür schickte er sein jüngstes Buch.
Angeregt von einer TV-Diskussion ihres Großvaters stellt Zohra ihrem Opa, Jean Ziegler, Fragen zum Kapitalismus. Dessen Gegner in der Debatte war ein Vertreter des Nahrungsmittelkonzerns Nestlé. Diese Konfrontation bereitete den Nährboden für den Zorn Zieglers, von 2000 bis 2008 UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und danach in ähnlichen Ämtern tätig. Er argumentierte vehement gegen die Darstellung des Nestlé-Sprechers, dem zufolge der Kapitalismus die gerechteste Organisationsform menschlichen Zusammenlebens ist, die es je auf der Erde gegeben hätte.
In seinem vor kurzem als Taschenbuch erschienenen Werk erläutert Ziegler seiner Enkelin die Verbrechen des Kapitalismus. Er schreibt über die Ursachen der tödlichen Unterernährung von Zehntausenden von Kindern, über die Zerstörung der Umwelt, die Vergiftung der Böden, des Wassers und der Luft, die Vernichtung der Wälder. „Zwei Drittel der Weltbevölkerung leben in der südlichen Hälfte der Erde, Hunderte Millionen davon unter unwürdigen Bedingungen (…) Für mich hat der Kapitalismus eine kannibalische Ordnung geschaffen: Überfluss für eine kleine Minderheit und mörderisches Elend für die große Mehrheit.“
Diese kannibalische Ordnung müsse radikal zerstört werden, schreibt der Autor – der andererseits durchaus dafür ist, dass die technischen Errungenschaften des Kapitalismus weiterhin der gesamten Menschheit dienen sollen, aber eben nicht nur dem Luxus einer Minderheit.
Ziegler erläutert seiner Enkelin, woher der Begriff Kapitalismus kommt und welche geschichtlichen Prozesse, die die Produktionsweise und die gesellschaftliche Ordnung ausformen, sich dahinter verbergen. „Das Kapital“ von Karl Marx ist naturgemäß ein Pfeiler dieser Erklärungen, und so beschreibt der Autor, der von 1967 bis 1983 und von 1987 bis 1999 als Abgeordneter im Schweizer Nationalrat sass, wie es Kapitalisten möglich wurde, sich den Mehrwert unter den Nagel zu reißen, und wie die Verschleierung dieser Hintergründe durch Zeitungen und die neuen Medien funktioniert.
Das blut- und schmutztriefende Kapital
Im Laufe seiner Darstellung nimmt Ziegler seine Enkelin mit auf eine Zeitreise durch die Entwicklung der Produktivkräfte – der Sklaverei, des Feudalismus, der Entfesselung durch Technik. Er schildert die ursprüngliche Akkumulation anhand des Beispiels der Stadt Potosi, überragt vom Cerro Rico, durchzogen von Tausenden von Silberadern. 40.000 Tonnen Silber in drei Jahrhunderten wurden dort abgebaut. Vier Millionen Indios haben ihr Leben lassen müssen dafür. Das Kapital kam also in der Tat „aus allen Poren blut- und schmutztriefend zur Welt“.
Ziegler beleuchtet auch die Französische Revolution und erwähnt Robespierres verhängnisvollen Fehler, Privateigentum als Mittelpunkt zu verfestigen, womit er sich in Widerspruch zu Jean-Jacques Rousseau begab. Er schildert den Zusammenbruch des Ostblocks, den Siegeszug der Elektronik, die Diktatur über die Weltwirtschaft durch das Finanzkapital und welche Rolle der IWF, strukturelle Gewalt und die „Geierfonds“ spielen.
Die Konsumgesellschaft, das Paradies all jener, die nicht über den Tellerrand hinausblicken können oder wollen, wird kontrastiert durch die Hölle von Kivu, einer Region im Osten des Kongo. Dort wird Coltan gefördert, notwendig zum Beispiel für die Herstellung von Handys. Vor allem schmächtige Kinder bauen das Erz ab, indem sie in enge Schächte kriechen. Bergrutsche sind häufig; die Kinder werden lebendig begraben und ersticken in den Schächten. Welch ein Fortschritt seit der Silbergewinnung bei Potosi!
Eine Gegenwehr durch Gewerkschaften sei so schwer wie wohl nie zuvor, konstatiert Ziegler. Auch im „kommunistischen China“ habe der Kapitalismus gewonnen. Seine Abschaffung aber ist eine kraftvolle Utopie, an der bereits Millionen Menschen arbeiten. Wer dabei an Helmut Schmidt denkt mit seiner Bemerkung über Visionen, wäre gut beraten, nicht zum Arzt zu gehen. Eher sollte er solche Zyniker in einen der Schächte von Kivu abseilen.
Zieglers Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite lesenswert. Auch für Leute, die bereits „Das Kapital“ oder Marx’ Vortragsmanuskript „Lohn, Preis und Profit“ kennen.
Text: Peter Stribl
Foto: Rama, Wikimedia Commons, Cc-by-sa-2.0-fr, CC BY-SA 2.0
Jean Ziegler: „Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin“. C. Bertelsmann, München. 126 Seiten. Taschenbuchausgabe 2021, 10 Euro