Die oft vergessene Kunst
Der Tanz hatte in der Antike gar eine eigene Muse, Terpsichore. In Winterthur findet er – selbst in diesem Seuchenjahr – aber auch noch heute immer wieder eine Heimstatt: Das Tanzfestival, das vom 12.-21. November zum 28. Mal stattfindet. Es handelt sich dabei um eine der wegweisenden Veranstaltungen für zeitgenössischen Tanz in der Region, die eine Vielzahl an internationalen und lokalen Choreographien präsentiert, die in dieser Gegend meist wohl nur bei dieser Gelegenheit zu sehen sein werden.
Das Tanzfestival Winterthur hat es sich zum Ziel gesetzt, einem breiten Publikum ein weites Spektrum des zeitgenössischen Tanzes näher zu bringen, der ja sonst (mit Unrecht) eher in den kulturellen Randbereichen für abgedrehte SpezialistInnen verortet wird. Das Programm 2020 bietet wie schon in den Vorjahren eine fesselnde Mischung aus etablierten Choreografen und vielversprechenden Newcomern aus ganz Europa sowie dem Raum Winterthur. Es gehört seit Jahren nämlich zum Festivalkonzept, die Abende mit einem Intro einer lokalen Tanzkompanie zu eröffnen.
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Der Rest ist Schweigen
Das Festival wird von der renommierten Lausanner Choreografin Nicole Seiler mit „The rest is silence“ eröffnet. Sieben TänzerInnen stehen im Licht des Feuers auf der Bühne und erleben Urerfahrungen und -ängste der Menschheit nach. Sie bilden eine imaginäre Folkloregruppe und erforschen gemeinsam die Grenzen des Zusammenseins. Wann erreicht eine Gruppe den Punkt der Trennung? Welchen Platz erhält die Individualität in einer Gesellschaft? Wie bewegt sich ein Lied zwischen Zusammengehörigkeitsgefühl und Ausschluss? Wo liegt die Grenze zwischen fröhlicher Explosion und Kriegsdetonation? Nicole Seiler experimentiert mit dem physischen Ursprung der Geräusche, welche der Körper produzieren kann. Als Intro gibt es an diesem ersten Abend „Bound in isolation“ von und mit Martina La Bonté, die sich mit dem Themenfeld des „Gebundenseins“ und „Verbundenseins“ in der Isolation auseinandersetzt.
Angst woher und wovor?
Die breitgefächerten Themen der einzelnen Aufführungen sollen sehr bewusst ein durchaus gemischtes Publikum ansprechen, denn der zeitgenössische Tanz ist offen für alle Empfindungen und Erfindungen der Gegenwart und kann sich daher auch auf vielen medialen Wegen an die verschiedensten Menschen richten. „In der Dunkelwelt“, ein Stück für Jugendliche von 10-16 Jahren sowie Erwachsene von Joachim Schlömer, thematisiert jene unwägbaren Unsicherheiten und Ängste, die die meisten von uns in der Übergangszeit vom Kind zum erwachsenen Menschen begleiten. Woher kommen unsere Ängste? Wie können wir ihnen begegnen, um ihnen nicht hilflos ausgeliefert zu sein? Und was hat die Wut damit zu tun? In der Übergangszeit vom Kind zum erwachsenen Menschen stehen Gefühlsausbrüche und Stimmungsschwankungen auf der Tagesordnung, und hier kommen sie auf die Bühne.
Wer sich nach hochkarätigem zeitgenössischem Tanz sehnt, sollte „November“ von Roser López Espinosa aus Barcelona nicht verpassen. Diese Choreografie schafft ein Spielfeld, auf dem drei TänzerInnen danach streben, eine gemeinsame Landschaft zu schaffen. Sie verweben ihre Körper in endlosen physischen Spielen. Das Stück thematisiert die Zusammengehörigkeit innerhalb einer Gruppe und beschäftigt sich mit geteilten und persönlichen Räumen in einer eigenen Welt, in der die Freude an Spiel und Imagination spürbar wird. Neben weiteren „großen“ Tanzabenden gibt es auch Workshops, die Kurzstückplattform „tanz unplugged“ sowie einen Tanzfilm im benachbarten Kino zu erleben.
Wie hältst Du es mit dem Tanz?
Verstehst Du Tanz? Kannst Du ihn „lesen“? Manche Menschen empfinden Tanz immer noch wie eine Fremdsprache, die sie nicht erlernt haben, und trauen sich daher nicht „mitzureden“. Auf andere wirkt er ähnlich wie das Hochdeutsche auf SchweizerInnen – obwohl klar verständlich, fühlen sie sich in ihm nicht „zu Hause“. Dieser Grundfrage aller Tanzenden an ihr Publikum nimmt sich „Doxs“ aus Schaffhausen im Stück „Mitreden“ an. Tanz und Projektionskunst entführen dabei das Publikum in eine bewegte Welt zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein und zeigen, wie diese Kunstform kommuniziert und verstanden werden kann. In diesem visuellen und emotionalen Erlebnis werden die ZuschauerInnen zu aktiv Beteiligten, indem sie über den Verlauf der Vorstellung kreativ mitentscheiden. Das Publikum hat also immerhin ein gewichtiges Wörtchen mitzureden.
MM/red (Bilder: TanzPlan Ost – Reuth Shemesh, Atara © Öncü Gülekin; Nicole Seiler The rest is silence © Julie Masson)
Was: 28. Tanzfestival Winterthur. Wann: 12.-21. November 2020. Wo: Theater am Gleis, Untere Vogelsangstrasse 3, 8400 Winterthur, direkt am Bahnhof Winterthur. Tanzkino im Kino Cameo, Lagerplatz 19, 8400 Winterthur. Weitere Informationen: Tickets zu einzelnen Veranstaltungen sowie Festivalpässe am besten über www.tanzfestivalwinterthur.ch. Achtung: Online-Tickets sind nur bis zum Vortag erhältlich. Es herrscht Maskenpflicht.