Die Reis‘: Szenischer Aufruf zur Solidarität

Beeindruckende Uraufführung des neuen Zahner-Stückes „Die Reis’“ in Singen – die Scheffelhalle erweist sich als fulminante Kulisse – Vater und Sohn spielen Vater und Sohn – Plädoyer gegen Ausgrenzung und Verfolgung bietet Parallelen zur Politik der Gegenwart – tolle Schauspieler-Leistung, ideenreiche Inszenierung und originelles Bühnenbild – ein rundum gelungener Premieren-Abend.

Das Theater beginnt mit Film. In einer Video-Sequenz verteidigt Dr. Ritter, Nazi-Mörder der Jenischen, seine Rassen-Ideologie – die Sätze bestehen aus Zitaten seiner Aufzeichnungen, aus Versatzstücken aus Hitlers „Mein Kampf“ und aus aktuellen Schriften der AfD. Das Fatale: Man erkennt keinen Unterschied – die Verwechslung, die Verwirrung ist gewollt.

Typisch Gerd Zahner: Der Autor aus Singen und Anwalt in Konstanz, mittlerweile berühmt für seine präzise recherchierten politischen Regional-Historien – sei es der verkannte Konstanzer Professor mit SS-Vergangenheit, der Massenmörder im Singener Gefängnis oder der Fememord im Hegau – klärt in seinem neuesten Stück „Die Rei’s“ über Lust und Leben der Jenischen auf, über ihre Sprache und ihre Musik, über ihren Freiheitsdrang und ihre Verzweiflung, überall verhasst und ständig verfolgt zu werden. Da lernt man viel über dieses verschworene Völkchen, aber auch über politisch gesäten Hass und völkische Diskriminierung gerade auch heutzutage.

Das alles bringt Mark Zurmühle, Schauspieldirektor am Theater Konstanz, trefflich auf die Bühne, die in der Scheffelhalle mit leider miserabler Akustik aus einem Geviert aus imitiertem Waldboden und einem versunkenen Wohnwagen besteht (Ausstattung: Eleonore Bircher) -.Sinnbild für die letzte jenische Reis‘, auf die der sterbenskranke Vater seinen längst entwöhnten Sohn einlädt. Großartig, wie Klaus Fischer und Georg Melich, Vater und Sohn im Leben wie auf der Bühne, das umsetzen: Voller Wehmut und anfänglicher Abneigung, dann mit emotionaler Annäherung und letztlich erklärter Liebe.

So funktioniert jenisches Leben, begreift der Zuschauer en passant, und bekommt eine Ahnung vom freien Leben ohne Konsumzwang und Rituale: „Du bist frei wie eine Wimper, die man vom Finger bläst, und du wünscht dir, dass dieses Gefühl dich nie verlässt.“

Eine rundum gelungene Aufführung also mit Lerneffekt und Sympathiewert. Die Jenischen – wohl 800 leben in Singen längst nicht mehr in Wohnwagen, sondern bürgerlich in Südstadt-Wohnungen, erzählen im filmischen Abspann davon, wie ihre Kinder immer noch in der Schule gehänselt werden, wie sie immer noch als Außenseiter geschmäht werden, wie sie sich alltäglich ausgegrenzt fühlen. Und so produziert „Die Reis’“ eine Lektion, die aktueller nicht sein kann: Wehret den Anfängen, steht euren Nachbarn bei, seid solidarisch, wenn sie ausgegrenzt werden. Demnächst könnte es auch euch treffen.

hpk (Foto: Theater Konstanz/Bjørn Jansen)

Weitere Vorstellungen am 11./12./13./14. /15. und 17. Oktober, jeweils um 20 Uhr. Vorverkauf über die Theaterkasse Konstanz, 07531 /900150, und über theaterkasse@konstanz.de. Zudem sind Tickets über den Kooperationspartner, das Kulturzentrum GEMS, erhältlich; auch über http://www.diegems.de

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