Die Waldorfschule als Bekenntnisschule, Teil zwei
In der zweiten Folge berichtet Klaus Prange, emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Tübingen, über die Waldorfschule als Bekenntnisschule. Über Gurus und Seelenführer, über die Agenten des Okkultismus und die zwei Seiten der Waldorfwelt; die Waldorfschule als Vorschule der Anthroposophie und das besondere Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler an der Waldorfschule, die – so Prange – Weihnachtsmannpädagogik betreibt.
Mit der zweiten These möchte ich zeigen, dass die Waldorfpädagogik den Einstieg in die Anthroposophie darstellt und dass die Waldorfschule eine Bekenntnisschule ist. Das ist aber etwas, was die Anthroposophen bestreiten. Sie stellen ihre Schularbeit als selbstlosen Dienst hin und weisen es weit von sich, dass sie ihren Nachwuchs über schulische Bildung rekrutieren. Anthroposophie werde nicht “gelehrt”.
Das mag richtig sein, insoweit nämlich, als Anthroposophie überhaupt nicht gelehrt wird wie der Satz des Pythagoras oder die Hauptsätze der Thermodynamik. Sie wird eingeübt und der Schüler soll mitgehen und eintauchen, er soll die Grundbewegung und die Optik miterlebend nachvollziehen; das gilt für die höhere Schulung, und es gilt für die Vorschule der Anthroposophie, die Waldorfschule. Steiner hat das auch klar gesagt: Wer die Waldorfschule kennen lernen und verstehen wolle, der solle nicht hospitieren, um sich mal einen Eindruck zu verschaffen, das sei naiv; er würde das Eigentliche gar nicht bemerken. Das könne er erst, wenn er Anthroposophie gelernt und studiert habe. Darin ist Steiner beizupflichten; man muss den anthroposophischen Blick wenigstens probeweise übernehmen, sonst versteht man gar nicht, wie das gemeint ist, was man da zu sehen bekommt. Das gilt für die Waldorfschule, das gilt im Übrigen auch sonst für Hospitationen. Daraus folgt aber nicht, dass man nicht kritisch und distanziert beobachten könne und nur versteht, was einem von Herzen zusagt.
Das didaktische Dreieck zwischen Thema, Lehrer und Schüler
Was ist nun das Besondere des Waldorfunterrichts? Jeder Unterricht, egal ob in der Waldorfschule oder sonst, hat es mit drei Momenten zu tun. Es gibt immer etwas, was gelernt werden soll, das Thema, es gibt den oder die Lernenden und den Lehrer, der zwischen dem Thema und dem Schüler vermittelt. Man hat das auch das didaktische Dreieck genannt. Egal, ob ich jemandem beibringe, wie er ein Auto fährt oder Horaz übersetzt, wie man Gleichungen mit zwei Unbekannten löst oder wie man höhere Welten erkennt, immer geht es um das dreiseitige Verhältnis zwischen Lernthema, Schüler und Lehrer. Das Entscheidende ist, wie diese drei Momente jeweils aufeinander bezogen werden, wie sie relationiert werden.
Wenn ich die Bergpredigt als göttliche Weisung behandle, bin ich Pastor und verkündige, die Schüler werden zu Hörern des Worts; betrachte ich die Bergpredigt als literarischen Text einer bestimmten Zeit und Autorenschaft, dann bin ich Lehrer im sokratischen Sinne, einer der klar macht und einordnet, und es dem Schüler überlässt, was er nimmt und daraus macht; und betrachte ich die Bergpredigt wie Franz Alt als Rezept zur Lösung der Weltfriedensfrage, dann präsentiere ich mich als Ratgeber für Klienten, die ein bisher ungelöstes, aber lösbares Problem haben.
In allen drei Varianten richtet sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis einerseits nach dem Verständnis des Themas; aber auch das Thema (der so genannte Lehrstoff) erscheint andererseits so, wie er präsentiert wird, das heißt: je nachdem, ob sich der Lehrende als Sprachrohr ewiger Wahrheiten oder als Informator über Sachverhalte oder als beratender Trainer für Lebensprobleme versteht und inszeniert. Wie bringt also der Waldorfunterricht Thema, Lehrer und Schüler zusammen? Wie werden die didaktischen Grundgrößen relationiert?
Ich gehe von dem Thema aus. Anders als viele meinen, hat die Waldorfschule wie üblicherweise alle Schulen ein Curriculum, d. h. einen festen Themen- und Lehrplan mit wohldefinierten Fächern und spezifischen Themen in den Fächern. Der alles entscheidende Punkt ist nun, wie die Themen eingeführt werden, weil dadurch eben auch bestimmt wird, ob wir es im Unterricht mit dem Verhältnis von Lehrer und Schüler wie bei Sokrates zu tun haben, oder um das Verhältnis von Meister und Jünger wie in einem Noviziat. Das Besondere der Waldorfschule ist, dass sie entschieden und einseitig das Weltbild und Menschenbild der Anthroposophie über den Sach- und Fachunterricht transportiert. Aber sie tut das nicht direkt, so dass man prüfen und wählen kann, sondern indirekt, sie tut es nicht ausdrücklich und offen, sondern gewissermaßen subversiv über die Methode des Unterrichts. Es ist die Methode der Ausbildung von Bildern, das Hineinbilden in das Weltbild der Anthroposophie, in ihren Grundgestus und ihre Haltung devotioneller Stimmungen.
Dem Lehrer ist zu glauben
Steiner hat sich dazu auch ganz klar ausgesprochen. Wir müssen, sagt er, die späteren Gedanken und Urteile durch Bilder vorbereiten, er sagt dazu auch: “infiltrieren”. Es kommt für das Kind im Schulalter, also zwischen dem sechsten Lebensjahr und der Pubertät, nicht darauf an, alles zu begreifen und begrifflich zu erfassen, sondern es muss mit Bildern ergriffen werden, die es übernimmt, weil es dem Lehrer glaubt. Wenn also z. B. die Raupe behandelt wird, dann geht es nicht allein um die Raupe, sondern in dem Bild, wie die Raupe aus dem Kokon heraus schlüpft, gibt man ein Bild dafür, wie die Seele aus dem Körper entweicht und dann weiterlebt. Das ist aber nicht nur ein Bild, das auch anders sein könnte, nicht nur ein beliebiges Gleichnis, sondern das ist wirklich so – natürlich nur für einen Anthroposophen. Und dem Kind soll nicht etwas suggeriert werden, was der Lehrer besser und anders weiß, sondern auch der Lehrer weiß, dass in der Raupe ein Analogon der Unsterblichkeit vorliegt; denn wir wissen ja schon: Alles Endliche, was wir sehen, ist eine Parallelaktion zu einem Unendlichen und Ewigen, das wir noch nicht sehen.
Die Grundform des Unterrichts in der Waldorfschule ist deshalb das “Charakterisieren”, das schärft Steiner immer wieder ein. Charakterisieren ist Darstellung einer Sache unter wertenden Gesichtspunkten. Es wird charakterisierend erzählt, und was erzählt wird, wird nachvollzogen, miterlebt, gestaltet und in Darstellung umgesetzt, sei es leibhaft-rhythmisch in der Eurhythmie, sei es im gestaltenden Malen oder Schnitzen oder Plastizieren. Man muss Bilder geben und Bilder erzeugen, nicht Begriffe und Urteile; denn Bilder motivieren, führen zusammen, sie geben Einheit, weil Bilder ein Ganzes sind, sinnlich erfahrbar und seelisch erlebbar. Später dann sind die Bilder Grundlage und Fundus der Gedanken und Urteile, aber zuerst bedarf es gleichsam einer Auffüllung mit inhaltlich und moralisch gehaltvollen Anschauungsbildern.
Ich will auf diesen Punkt besonders eingehen. Er enthält eine wichtige Einsicht und erklärt die relativen Erfolge der Waldorfschule. Er enthält aber auch eine gefährliche Nuance. Davon gleich. Dass Bilder und auch Scheinbilder, sozusagen semantische und syntaktische Metaphern, motivieren, kann man sich leicht klarmachen. Wenn wir uns für allgemeine Zwecke begeistern oder begeistert werden sollen, dann können wir rufen: “Hoch lebe Kaiser Wilhelm!” oder im Fußball etwa: “Deutschland vor!” oder auch: “Rettet das Vaterland!”; wir würden es aber als ganz unnatürlich und ziemlich wirkungslos empfinden, wenn uns zugerufen würde: “Hoch lebe das kommunikative Apriori des herrschaftsfreien Diskurses” oder “Kämpft für die pluralistische, im Grundgesetz durch Konsens formulierte Gesellschaft nach den Regeln des demokratischen Verfassungsstaates”. Das sind rationale Nachträge und Erläuterungen, nicht Motive. Man schwört auf die Bibel oder eine Fahne, nicht auf Theoreme. Bilder motivieren, nicht Argumente, und wenn Argumente motivieren und etwas bewegen sollen, muss man sie in schlagkräftige Slogans und Bildkürzel umwandeln: “Nieder mit den Kapitalisten!” oder “Schlesien ist unser!” Die Frage ist, welche Bilder sollen gelten und wie soll man sich zu ihnen stellen?
Wann kann man welchen Bildern vertrauen?
Das lässt sich unterschiedlich beantworten, und ich will das noch einmal vergleichend verdeutlichen, indem ich auf eine Quelle eingehe, die sowohl Steiner wie Freud benutzt haben. Beide sind schon in ihrer Schulzeit mit der Psychologie Johann Friedrich Herbarts bekannt geworden. Das lag an dem österreichischen Schulsystem und dem Lehrplan der Zeit. Herbart hat eine Lehre von den Vorstellungen aufgestellt, die die Grundlage seiner Pädagogik ist. Der Kerngedanke ist: wir können uns nicht nichts vorstellen. Ich sage jetzt das Wort “Hund” oder “Baum”, und Sie haben ein Vorstellungsbild. Das nehme ich wenigstens an. Und wo ein Vorstellungsbild ist – Herbart sagt: wo Schein ist, denn das Bild ist ja nicht die Wirklichkeit –, da muss auch Sein gegeben sein. “Wieviel Schein soviel Hindeutung auf das Sein”, heißt es bei Herbart. So wie es eine Fotografie von einem Menschen nur gibt, wenn es den Menschen gibt, so kann es Bilder nur mit einem Grund geben, dem Sein.
Man kann auch volkstümlich sagen: Wo Rauch ist, muss auch Feuer sein. Fragt sich nur, welches Feuer – nämlich ein wirkliches oder nur ein eingebildetes Feuer. Das ist der entscheidende Punkt, wo Steiner und Freud auseinander gehen. Man kann den Bildern nicht einfach trauen; sie enthalten auch unerklärte, verworrene, destruktive Motive. Freud hat deshalb auch die Wahnbilder und Trugbilder untersucht und aufzulösen gesucht, die Verschiebungen und Verdeckungen, um ihrem Bann zu entgehen, Steiner bestärkt ihren Bann und führt so in sie ein, dass man ihnen nicht mehr entrinnen kann.
Dazu ein Beispiel ohne jeden Nimbus und weihevolles Tabu. Wir alle kennen die Rede vom Weihnachtsmann. Ich unterstelle einmal, dass es Weihnachtsmänner nicht gibt, aber es gibt das Bild des Weihnachtsmanns, und es ist für Kinder höchst wirkungsvoll, eingebunden in Geschichten, Träume und Erwartungen, nicht eigentlich wirklich, aber eben doch wirksam. Im Übrigen für manche Eltern auch pädagogisch praktisch; man kann damit drohen und locken, solange das Kind an den Weihnachtsmann glaubt, und man nimmt dem kleinen Kind auch etwas, wenn man die Weihnachtsmannfiktion nicht anbietet, weil es ihn ja nicht gibt, so wie man ihm etwas nimmt, wenn man ihm keine Märchen als Identifikationsobjekte anbietet, weil Märchen nur Märchen sind. Dann lernt das Kind aber, dass es Weihnachtsmänner nicht gibt, das Bild verliert seine Kraft, es motiviert nicht mehr direkt. Das ist Verlust und Gewinn, Verlust einer wohltätigen Illusion und Gewinn an Realitätssinn.
Die Pädagogik der Waldorfschule ist, mit Verlaub, eine Weihnachtsmannpädagogik. Sie führt ein in die Bilderwelt, als ob sie unmittelbar wahr seien, sozusagen Fotografien des Absoluten. Es wird wie in Steiners Erkenntnislehre laufend von der Wirklichkeit des Vorstellens auf die Wirklichkeit des Vorgestellten geschlossen. Das ist die Logik des eingebildeten Kranken, der zwar seine Schmerzen hat und unter Leidensdruck steht, aber nachprüfbar eben doch nicht krank ist. Um die Realität der Bilder tief einzuprägen, verfährt die Waldorfpädagogik ausdrücklich charakterisierend, bietet Bilder, vermeidet ihre Erklärung, das würde ihren Bann aufheben, und dazu braucht sie, wie jeder weiß, der erzählt und charakterisiert, auch eine spezifische Autorität des Lehrers, die so genannte geliebte Autorität; in Wahrheit, so wird es auch gesagt, ist es eine weihepriesterliche Stellung und Selbstauffassung des Lehrers, nicht das sokratische Vorbild des Gesprächsführers, sondern das religiöse Vorbild des Seelenführers.
Aus diesem didaktischen Grundverhältnis ergibt sich alles Weitere: die Organisation der Schule, die Verachtung prozeduraler Sicherheiten und Revisionsmöglichkeiten, die tief gelagerte Verhaltenssicherheit, das Einlehrerprinzip, um die Einheitswirkung der Bilder und einer bestimmten Bilderreihe zu garantieren, daraus ergibt sich auch die Form der Zeugnisgebung.
Der Lehrer unterrichtet nicht nur und prüft, was gelernt ist, sondern er erfasst das Kind wesensmäßig und gibt ihm das Bild zurück, das er von ihm hat. So wie der Unterricht in Hinsicht auf die Themen und Stoffe charakterisierend verfährt, um Motivdepots zu installieren, so verfährt der Lehrer in Hinsicht auf das Kind, indem er ihm z. B. im Zeugnisspruch ein Wesen zuspricht, indem er sagt, wie es lernt, wie es teilnimmt, wie es einschwingt in Bezüge und wie es die Geschichten aufnimmt, die es zu hören hat. Das Kind wird nicht daran gemessen, wie es definierten Standards der Aneignung eines Lehrgutes entspricht, sondern wie es dem Lehrer entspricht und dem, wofür er einsteht.
Das Waldorfzeugnis ist eine erweiterte und spezifizierte Form der Beurteilung des Verhaltens und des Betragens, der Beteiligung am Unterricht und der Form, wie der Lernende sich auf den Unterricht einlässt. Er wird am Lehrer gemessen, nicht daran, ob er Geometrie oder Geschichte erkennbar gelernt hat. Die neuere Forschung zur sozialen Interaktion hat gezeigt, wie solche Zuschreibungen oder Etikettierungen stabilisiert werden können, z. B. über Ritualisierung, über den Ausschluss alternativer Orientierungen, über die Androhung und Anwendung von Sanktionen. Aus Zuschreibungen, aus der Art, wie jemand gesehen und behandelt wird, werden Eigenschaften, die er sich selbst zurechnet. Er wird so, wie er gesehen wird, und so soll er ja auch werden. Und das umso mehr, als ja das Widerlager einer Kompetenz fehlt, die unabhängig von der persönlichen Beziehung zum Lehrer begründet ist.
Das Subjektive im Zeugnis
In der Kritik an der gängigen Zensurengebung wird zu Recht vorgetragen, dass in die Zensur ein Übermaß an persönlicher Meinung, an Sympathie oder Antipathie eingeht; es gibt nicht genug Sicherungen gegen das subjektive Urteil und deshalb muss man sich bemühen, die Zensur auf das Prüfbare zu beschränken und Formen der objektiveren Beurteilung zu finden. Die Waldorfschule verfährt von vornherein subjektiv und spricht dem Lehrer in seiner weihepriesterlichen Stellung als Seelenführer von vornherein die Aufgabe und Fähigkeit zu, das Wesen des Kindes zu erfassen und formulieren zu können. Sie ist der üblichen Zensurengebung nicht überlegen und voraus; sie hat vielmehr einen Modus der Personenbeschreibung und charakterlichen Würdigung festgehalten, der vormodern ist; die Zensurengebung und Zeugnisgebung ist überschwänglich; so musste man sich in der Feudalzeit das Empfehlungsschreiben einer Reputationsgröße verschaffen.
Ich fasse diesen Punkt so zusammen: Die Pädagogik der Waldorfschule beruht auf der Technik der Indoktrination. Sie besteht darin, Lerninhalte, Verhalten und Gesinnungen fest zu verkoppeln. Sie wird gestützt durch Gewissheiten, die gläubig und Glauben fordernd vorgetragen werden; Gewissheiten, die einzig und allein auf der Annahme beruhen, der “Doktor” habe als Fotograf des Übersinnlichen etwas festgehalten, was die blinden Sinnenwesen irgendwann auch einmal sehen werden. Es gibt keine andere Pädagogik, die mit solcher Einseitigkeit auf die Behauptungen eines Einzelnen gestellt sind, darunter solche von höchster Bedenklichkeit, die im Herrschaftston überweltlicher Weisheit und Einsicht verkündet werden.
Als Beleg und zur Illustration nur dieses Beispiel: Warum sind einige Menschen nicht “weiß”, wie die meisten Europäer, sondern dunkel bis schwarz? Die wissenschaftliche Antwort wird üblicherweise in der Physischen Anthropologie gesucht. Dr. Steiner jedoch weiß es besser und tiefer. Dass jemand dunkel auf die Welt kommt, liegt daran, dass er in seinem vorherigen Leben ein “dunkles”, verderbliches Leben geführt hat. Mehr noch: Er könne jetzt schon bei einigen Zeitgenossen voraussagen, dass sie in der nächst fälligen Inkarnation als Schwarze auf die Welt kämen, zur Strafe für ihre Schandtaten. Das ist die feine anthroposophische Art des Rassismus. Ebenso werden Krankheiten, Missbildungen, Geistesstörungen als Ergebnis früherer moralischer Verfehlungen gedeutet.
Die Zukunft einer Illusionierung
Damit bin ich beim dritten und letzten Punkt, der sich kurz abhandeln lässt. Es ist nach allem klar, dass die Aufklärer und Kant, dass die furchtlosen Kritiker des Aberglaubens, die z. B. gegen den Wahnsinn der Verfolgungen und Gesinnungsschnüffelei Front gemacht haben, für die Waldorfpädagogik umsonst gelebt haben. Der Geist der Prüfung und offenen Erörterung, der Kritik und Selbstkritik ist nicht der Geist des Dr. Steiner und seiner Anhänger, auch nicht der Geist der Differenzierung und der weitergehenden Forschung. Das aber ist der Geist der Demokratie und einer “offenen Gesellschaft” (Karl Popper), um es kurz zu sagen. Er beruht nicht auf Offenbarungen und ewigen Ordnungen, sondern er rechnet mit der Fehlbarkeit und Irrtumsanfälligkeit eines jeden, so dass auch keiner ein für allemal das letzte Wort haben und kein Amt unwiderruflich und auf unbeschränkte Dauer vergeben werden darf. Wir handeln unter Bedingungen der Ungewissheit und Unsicherheit. Deshalb müssen wir uns vorher beraten und uns hinterher prüfen lassen, um uns korrigieren zu können.
Doch diese prinzipiell unaufhebbare Vorläufigkeit in allen Dingen, die unseren gemeinschaftlichen Umgang betreffen, erscheint vielen als unbefriedigend und als Störung ihres Wunsches, ihr Leben unter Kontrolle zu haben. Sie erscheint aber vor allem dann als unliebsame Blockade, wenn man andere regieren und über sie herrschen will. Das erste betrifft Steiners Gefolgschaft, das zweite ihn selbst. Diejenigen, die nach letzter Sicherheit und Gewissheit streben, bringen die Chancen des Urteils und eigener Prüfung als Morgengabe ihrer Unterwerfung unter das Diktat derer, die diese Unsicherheit ausbeuten und im Namen des Dienstes, der Liebe und der huldreichen Zuwendung ihre Herrschaft aufrichten.
Es verhält sich hier wie mit der tief verdächtigen Selbstbeschreibung der Papstautorität als servus servorum: Die gesteigerte Dienstfertigkeit ist die Maske des Unterwerfungsanspruchs. Man sollte meinen, dass das letzte Jahrhundert genug Machtmissbrauch, regellose Herrschaft und blanke Gewalt im Namen des wahren Fortschritts, der Freiheit und des allgemeinen Menschenglücks erlebt hat, als dass es noch erlaubt wäre, auf totale Antworten und letzte Lösungen zu setzen.
Das Problem heißt aber nicht Rudolf Steiner. Seine physikalischen, historischen, psychologischen Ansichten werden in der Wissenschaft nicht beachtet; das Problem ist die Folge- und Unterwerfungsbereitschaft derer, die im Namen von Wissenschaft ihre Aufhebung wollen und faktisch betreiben. Die Nutznießer sind die Gurus und Seelenführer, die Agenten des Okkultismus und – um dies mit aller Deutlichkeit zu sagen – auch diejenigen Pädagogen, die glauben, den Kindern zu helfen, das Leben zu bestehen, indem sie ihnen eine Welt präsentieren, die nur in ihrer Phantasie besteht. Der Lehrer bleibt in der Waldorfwelt, aber die Kinder und die Schüler müssen sie verlassen und haben in vielen Fällen schwer daran zu leiden, es sei denn, dass sie als Lehrer in den sicheren Hafen der Waldorfwelt zurückkehren.
Dennoch bleibt das Problem bestehen, mit dem ich begonnen habe: Wir finden uns nur schwer in einer sich wandelnden Welt zurecht, die keine bleibenden Sinnangebote bietet und dem Einzelnen zumutet, seine individuelle Gleichung von Fall zu Fall selber zu finden. Doch eben damit müssen wir wohl oder übel zurechtkommen und sei es mit dem Zwinkern der Auguren, an das die Bohr-Anekdote erinnern sollte. Es mag noch andere Formen der Kontingenzbewältigung geben, aber eines scheint mir sicher: Dr. Steiner und die Seinen haben dafür keine vertretbare Antwort.
Zuerst veröffentlicht beim Blog Ruhrbarone, unter dem Titel: Curriculum und Karma – das anthroposophische Erziehungsmodell Rudolf Steiners
Sehr guter Beitrag von Prof. Prange! Das Rätsel wird immer größer, wieso die Waldorfeinrichtungen öffentlich gefördert werden …
Prof. Prange gibt mir eine große Hilfe zum Argumentieren mit Verfechtern der Anthroposophischen Lehre in ihrer Irrmeinung. Ich bin dankbar für diesen Artikel.