Dracula wohnt nicht mehr hier
Denken Sie an einen Vampir, denken Sie wahrscheinlich an ein gieriges, grausames Wesen mit spitzen Zähnen und spitzen Ohren, das rücksichtslos das Blut Unschuldiger trinkt. So zumindest sieht das seit Bram Stokers 1897 erschienenen Roman „Dracula“ weit verbreitete Vampirbild aus. Friedrich Wilhelm Murnau hat aus dem Stoff 1922 schließlich einen der ersten Horrorfilme geschaffen. Das Theaterstück zum Stoff läuft derzeit auf dem Konstanzer Münsterplatz. Eine Einschätzung unserer Theaterkritikerin.
Von einem Theaterstück mit dem Titel „Nosferatu“ kann man also erwarten, dass es gruselig, düster und blutrünstig wird. Doch die Fassung von Stephan Teuwissen, die nun in Regie von Mélanie Huber auf dem Konstanzer Münsterplatz unter freiem Himmel uraufgeführt wurde, bietet weit mehr als das.
Konstanzer Blut, bedächtiges Blut
Konstanz im Jahr 1922: Prof. Dirk van Hasselt, ein holländischer Wissenschaftler („Aufklärer mit und aus Leidenschaft“ famos verkörpert durch Ingo Biermann – großen Respekt für den souveränen Umgang mit dem obligatorischen Mikrofon-Malheur), kommt nach Konstanz. Vor dem Verein der (angeblich) Bildungsfreudigen hält er einen Vortrag über widernatürliche Phänomene unter Berücksichtigung des Vampirismus. Er warnt die Bürger*innen vor den blutrünstigen Wesen („Ihr wähnt das Paradies auf Erden zu bewohnen, aber Ihr irrt gewaltig“), nur dass ihm in der beschaulichen Bodenseeperle niemand so recht Glauben schenken will („Nach Konstanz kommt keiner von Kaliber!“ – bekannter Satz aus Personaldebatten in Stadtverwaltung, Universität und anderswo).
Allein Linda-Marie kann seinen Ideen etwas abgewinnen, vielleicht aber auch nur, weil sie ihm heillos verfallen ist. Jonas Pätzold, der sich bereits mit seinem musikalischen Liederabend „Kurz vor Kuss“ in die Herzen des Publikums geträllert hat, gibt hier eine entzückend säuselnde Linda-Marie. Eine Vampir-Hysterie vermag im beschaulichen Konstanz („Konstanzer Blut, bedächtiges Blut“) überhaupt nicht aufzukommen. Vielmehr sendet der Makler Nogg (facettenreich: Patrick O. Beck) seinen Angestellten Hutter (engagiert: Julian Mantaj) in das Mutterland des Vampirmythos, nach Siebenbürgen, um dort mit dem Grafen Orlok ein gutes Geschäft abzuschließen. Ganz der Konstanzer Bürger eben: Durch nichts aus der Ruhe zu bringen und geschäftstüchtig wie eh und je. Hutter, jung-dynamisch, karriere-orientiert und opportunistisch, wähnt den Auftrag als seine große Chance, doch stattdessen begibt er sich in die Fänge von Nosferatu(uuuuu). Die tragische Vampirin, gespielt von Luise Harder, lässt eine gewisse Selbstironie nicht missen. Der starre Blick und hölzerne Gang schien der Schauspielerin ersichtlich Freude gemacht zu haben. Doch hätte es der Figur gut angestanden, wenn sie ‚das Monster‘ im rumänischen Kind der Nacht stärker herausgearbeitet hätte.
Starker Chor, dynamische Szenen
Stephan Teuwissen, der den historischen Stoff für Konstanz adaptiert hat, gibt dem Chor im Stück eine zentrale Bedeutung. Die einzelnen Figuren treten aus der Menge heraus und kehren kurz darauf wieder in den Chor zurück – so bleibt immer Bewegung in der Szene, ohne dass Schauspieler*innen inaktiv auf der Bühne verweilen müssten. Für das Ensemble eine physische Herausforderung – und das bei 32 Grad im Schatten! Der Chor fungiert als Erzähler und Kommentator der Handlung. Er verstärkt und verzerrt die Botschaften der einzelnen Figuren. Dadurch wird viel Raum für Komisches geschaffen, der (im positiven Sinne!) schamlos ausgenutzt wird. Hubers Inszenierung hat starken illustratorischen Charakter. Die Regisseurin arbeitet mit vielen (Stand-)Bildern, in denen die Darstellenden, ihre Gesten, Mimik und Geräusche sorgsam angeordnet und zu einem großen Ganzen verbunden werden. Sie bietet dem Ensemble Gelegenheit, schauspielerisch aus den vollen zu Schöpfen: sei es bei einem Sprint rund um die Publikumstribüne, Wolfsgeheul und Schock-Grimassen oder der Verkörperung sich bewegenden Mobiliars à la the Beauty and the Beast. Das Konstanzer Stadtensemble wurde hingegen nicht überzeugend eingebunden – die Laiendarsteller*innen wirken mehr wie ‚schmückendes Beiwerk‘. Da hätte man, zumal in einem Stück über Untote, mehr herausholen können.
Schwarz-Weiß-Film mit Farbtupfer
Das Bühnenbild von Lena Hiebel, die auch für das Kostüm verantwortlich zeichnet, wirkt zurückhaltend und erweist sich als funktional und handlungsunterstützend. Ein schräger Turm, zu dem einige Treppen führen, sowie ein niedriges asymmetrisches Podest bilden die Hauptelemente. Die Bühne ist ganz in schwarz gehalten – wollte da jemand einen ‚schwarz-weiß-Film‘ zeigen? Dagegen kontrastiert Hiebel farbige Kostüme im Stil der 1920er Jahre ohne viel chi-chi, aber mit raffinierten Details und hochwertigen Stoffen. In manchen Szenen erhält der Chor praktische Accessoires, die einen schnellen Rollenwechsel ermöglichen, wie Vorderseiten von Anzugwesten zum Umschnallen oder Kochschürzen. Manchmal wünscht man sich mehr solcher kleiner Gegenstände auf der Bühne – ein Festsaal im Spukschloss ganz ohne Ritterrüstung? Die minimalistische Ausstattung erschwert es, in manch schnelle Szene einzutauchen. Auch die Maske bleibt mit zeittypischen Frisuren dem historischen Kontext und mit blass geschminkten Gesichtern mit roten Lippen und tiefliegenden Augen dem Grusel-Genre treu.
Inszenierung mit Paukenschlag
Weitere große Stärke der Inszenierung: Die Musik. Die Blaskapelle und unter Leitung von Rudolf Hartmann gibt vielen ausdrucksstarken Szenen den letzten ‚Wumms‘. Die Kompositionen von Sebastian Androne-Nakanashi fügen sich toll in das Feeling ‚film noir meets Addams Family‘ ein. Charleston, Polka, Wiener Expressionismus. Die Klänge referenzieren nicht nur die goldenen Zwanziger, sondern stellen zugleich die Verbindung zwischen Bodensee und Transsilvanien her.
Das Publikum zeigt sich am Ende von der Inszenierung begeistert und belohnt die Mitwirkenden mit ausgedehnten Applaus-Stürmen. Eine Zuschauerin konstatiert: „Viel besser als Tanz der Vampire!“. Ein anderer versucht beim Verlassen der Sitzplätze sogleich seiner Begleitung mit Zeigefingern als Zähnen in guter Vampir-Manier in den Hals zu ‚beißen‘. Teuwissen, Huber, Hiebel und Androne-Nakanashi gelingt es, dem platten Vampir-Image der letzten 100 Jahre in vielerlei Hinsicht eine neue Vielschichtigkeit zu verleihen, die hoffentlich noch viele Zuschauer*innen begeistern wird. „Nosferatu“ ist ein tolles Stück für altes wie junges Publikum und das Konstanzer Ensemble haucht dem untoten Stoff beschwingtes Leben ein!
Text: Franziska Spanner
Bild: Theater Konstanz
Das Stück läuft noch bis zum 23.7.2022
Vielen Dank für diese ausgezeichnete Besprechung: nett zu lesen, zeigt detailliert die Stärken, aber auch die kleinen Schwächen der Inszenierung auf.
Jetzt wird das Theater mindestens eine Karte mehr verkaufen können.