Edelweißpiraten: Sie wollten frei sein
Es gibt nicht viele Bücher, die zugleich den Verstand und das Herz berühren. Alexander Goeb hat das mit seinem Buch „Die verlorene Ehre des Bartholomäus Schink. Jugendwiderstand im NS-Staat und der Umgang mit den Verfolgten von 1945 bis heute“ zumindest bei mir erreicht. Ich empfehle dieses Buch zu lesen, sich berühren zu lassen und die Kenntnisse über die Vielfältigkeit des antifaschistischen Widerstandes zu erweitern.
Am 10. November 1944 wurden in Köln-Ehrenfeld 13 Widerstandskämpfer, sechs Jungen und sieben erwachsene Männer, zwei davon erst Anfang 20, ohne jegliches Gerichtsurteil in einer öffentlichen Straße in Köln aufgehängt. Nach den Berichten, die Alexander Goeb wiedergibt, sollen Kölnerinnen und Kölner, die zur Betrachtung des Mordes vor Ort befohlen waren, zumindest zum Teil Beifall geklatscht haben. Ein Teil der Ermordeten gehörte den Edelweißpiraten, einer losen Jugendvereinigung, deren Mitglieder auch aus der Bündischen Jugend kamen, an. Ermordet wurden Günther Schwarz (16) Bartholomäus Schink (16), Johann Müller (16), Franz Rheinberger (17), Gustav Bermel (17) und Adolf Schütz (18). Zu den Ermordeten gehörte auch Hans Balzer (16), der kurz vor diesem öffentlichen Mord von der Gestapo erschossen worden war. Alle Ermordeten waren zuvor in der Kölner Folterzentrale der Gestapo schwerst misshandelt worden.
Alexander Goeb lässt in seinem Buch die Gruppenmitglieder der Edelweißpiraten lebendig werden. Eine Überlebende, Zilly Serwe, spricht über die Motive der Edelweißpiraten: „Gruppenmitglieder in dem Sinne gab es nicht; das war alles nicht fest organisiert. Die machten mal das, dann kam mal der und dann kam mal jener. Wir waren gegen die Nazis, war das nicht genug“, war ihr Resümee. Die Edelweißpiraten erreichten in den letzten Kriegstagen in verschiedenen Städten des Rheinlands einige tausend Jugendliche: eine ernstzunehmende Kraft im Widerstand gegen die Nazis.
Sie versteckten Flüchtlinge, die aus KZ’s und Zuchthäusern entkommen konnten, brachten Jüdinnen und Juden in illegalen Quartieren unter und retteten so vielen Menschen das Leben. Sie leisteten den Nazis auch, wo immer es nötig und möglich war, bewaffneten Widerstand. Die Waffen entstammten zumeist Entwaffnungen von Angehörigen der Wehrmacht. Die Edelweißpiraten organisierten ihre Kontakte auch zu Kommunisten und anderen Angehörigen des Widerstandes. Mein Genosse Heinz Humbach, der über viele Jahre Vorsitzender der Kommunisten im Rheinland war, ein rundum Kölner, gehörte zu den Edelweißpiraten und war bzw. wurde Kommunist.
Die Namen kamen von Indianern
Die Edelweißpiraten nannten ihre Gruppen nach Indianerstämmen, die von Köln nach den Navajos. Man wollte draußen sein, nicht diszipliniert, nicht eingeordnet, das Lagerfeuer und die Gitarre waren Bindeglieder der Edelweißpiraten. Eine Edelweißpiratin schreibt darüber, dass in den Edelweißpiraten-Gruppen Jungen und Mädchen, Männer und Frauen, völlig gleichberechtigt waren.
Franz-Josef Degenhardt hat den Edelweißpiraten ein musikalisches und literarisches Denkmal gesetzt. In seiner Ballade über Nevada-Kid beschreibt er, dass man sich am Grab von Nevada-Kid nach 1945 mit dem berühmten Erkennungspfiff der Edelweißpiraten, basierend auf dem Lied „Es war ein Edelweiß“, mit drei quergepfiffenen Liedzeilen verabschiedet hat. Alle, die es können, und das Buch von Alexander Goeb lesen, empfehle ich: Hört Euch zusätzlich die CD von Franz-Josef Degenhardt dazu an. Franz-Josef Degenhardt beschreibt, wie Nevada-Kid und seine Edelweißfreunde Munitionsdepots der Nazis in die Luft jagten, wie man Bomben-Züge entgleisen ließ und mit allem, was man hatte, gegen die Nazis kämpfte. Nach der Befreiung war der schwule Nevada-Kid, so singt Degenhardt, für einige Tage der Held mit seiner Rumba-Gitarre und dann war er wieder kriminell. Auch das ist mir erst bei der Lektüre des Buches wieder ins Bewusstsein gedrungen, dass Homosexualität mit dem berüchtigten Paragraphen 175 bis zum Jahr 1994 formell ein Straftatbestand war.
Anerkannt erst 2005
Gegen den Vorwurf, mit der Waffe in der Hand gegen die Nazis gekämpft zu haben, mussten die Edelweißpiraten noch lange Jahre nach 1945 ankämpfen. Was beim 20. Juli, beim militärischen Widerstand, das Normale war, dass man mit Waffen gegen Waffen vorging, war bei den Edelweißpiraten nicht schicklich. Waffen in der Hand von jungen Arbeiterinnen und Arbeitern war eine Schreckensvorstellung der etablierten Nazis vor 1945 und nach 1945.
Der Kampf der Edelweißpiraten um die Anerkennung ihres Widerstandes ging bis zum Jahr 2005. Erst dann kam es zur Anerkennung der verfolgten Jugendlichen als politische Widerstandskämpfer. Viele von den Edelweißpiraten haben diese Anerkennung nicht mehr erleben können. Umso wichtiger, dass ihr Vermächtnis „frei sein zu wollen“, von den nachfolgenden Generationen weitergetragen wird.
Wolfgang Gehrcke (Dieser Text erschien zuerst auf www.antifa.de)
Alexander Goeb: Die verlorene Ehre des Bartholomäus Schink. Jugendwiderstand im NS-Staat und der Umgang mit den Verfolgten von 1945 bis heute. Die Kölner Edelweißpiraten.
Brandes & Apsel 2016; 180 Seiten, 16,90 EUR.
https://www.youtube.com/watch?v=ryNY6ho6cq8