Ein Marathon: 91,14 Minuten

So manche Komposition wird allein schon durch ihre Entstehungsgeschichte interessant: Die Teufelstriller-Sonate etwa, zu der Tartini von einem geigenden Satan angeregt wurde, oder das angebliche Anklopfen des Schicksals in Beethovens 5. Sinfonie. Am Wochenende erlebt ein weiteres Werk aus dieser Kategorie seine Uraufführung: Der „Sommerzeitraffer“ von Ralf Kleinehanding, „ein musikalisches Tagebuch mit Höhen und Tiefen, Längen und Kürzen“.

Auf diese Idee muss man erst mal kommen: 217 Tage lang komponierte Kleinehanding Tag für Tag exakt 25,20 Sek. Musik. Dabei entstand ein Stück, das 91,14 Minuten dauert und von seinem Schöpfer ausdrücklich als „Musikmarathon für Klavier und Vibraphon/Schlagwerk“ bezeichnet wird. Angesichts einer Spieldauer von Mahlerschen oder Brucknerschen Ausmaßen ist diese Bezeichnung sicher ebenso treffend wie angesichts der Sturheit, Schritt für Schritt und Tag für Tag eine gleiche Portion Musik zu schaffen. Das erinnert durchaus an Läufer, die in existenzieller Beharrlichkeit ihre klassischen 42,195 Kilometer herunterspulen, ebenfalls Schritt für Schritt. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang natürlich auch der berühmte Bote Pheidippides, der es sogar mit den 246 Kilometern von Athen nach Sparta aufnahm und so zum Begründer des Spartathlon wurde, der meines Wissens noch der musikalischen Umsetzung harrt (wenn man manche Werke von Cage oder Feldman unberücksichtigt lässt).

„Vom 28. März bis zum 30. Oktober habe ich im vergangenen Jahr täglich 25,20 Sekunden Musik komponiert, die als Inspirationsquelle das Leben, mein Leben, unser Leben hatte. Des Öfteren habe ich mich über heftige und unangenehme Ereignisse und Stimmungen gefreut, weil ich wusste, sie werden dem Stück gut tun. Es gab aber auch Situationen, in denen ich Musik geschrieben habe, die in eine bestimmte Richtung zielte und ich dann dachte, oh je, was wird das wohl für eine Woche“, berichtet der Schöpfer über die Entstehung seines Langwerkes.

Aufgeführt wird das Werk im Rahmen der Reihe „High Noon Musik 2000+“, die es sich seit 2010 in Konstanz zur Aufgabe gemacht hat, regelmäßig zeitgenössische Kammermusik in einem ansprechenden Rahmen zu präsentieren. Darüber hinaus stellt dieses Format ein Experimentierfeld für professionelle Musiker des Bodenseeraumes dar.

Was: „Sommerzeitraffer“. Ein Musikmarathon für Klavier und Vibraphon/Schlagwerk von Ralf Kleinehanding. Wer: Kristín Kristjánsdóttir (Klavier), Ralf Kleinehanding (Vibraphon & Schlagwerk). Wann: 29. Mai 2022, 12.00 Uhr. Wo: Studio der Südwestdeutschen Philharmonie, Fischmarkt 2, 78462 Konstanz. Wofür: Eintritt: 10 € / 6 € ermäßigt, kein Vorverkauf, Karten an der Mittagskasse. Was noch: www.highnoonmusik.de

Text: MM/red, Bild: HighNoon Musik 2000+, zu sehen sind die Pianistin Kristín Kristjánsdóttir und der Komponist, Vibraphonist und Schlagwerker Ralf Kleinehanding.