Ein Missverständnis

Kein gutes Haar lässt Jochen Kelter an einem jüngst vom deutschen Penguin-Verlag herausgebrachten Buch der türkischen Autorin Aslı Erdoğan. Das Verdikt des im Thurgau lebenden Schriftstellers: Hier handelt es sich um ein dreistes Marketing-Manöver des Verlags, der das Schicksal einer politischen Dissidentin ausschlachten will, des Verkaufserfolgs wegen.

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Der „Gefängnis-Roman“ „Das Haus aus Stein“ der türkischen Autorin Asli Erdoğan

Aslı Erdoğan ist Physikerin, Journalistin und Schriftstellerin. Nach dem fehlgeschlagenen Militärputsch in der Türkei von 2016 wurde sie kurz danach im August 2016 zusammen mit ihren Kollegen der kurdisch-türkischen Zeitung Özgür Gündem verhaftet. Ihr werden Propaganda für und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen. 132 Tage verbringt sie in einem Istanbuler Frauengefängnis, dann kommt sie frei. Neun Monate später bekommt sie ihren Pass zurück und reist nach Deutschland aus. Unterdessen lebt sie mit einer zweijährigen Aufenthaltserlaubnis und einem zweijährigen Stipendium in Frankfurt.

Nun ist ihr in der Türkei vor zehn Jahren erschienener Roman „Das Haus aus Stein“ auf Deutsch erschienen. In ihm soll sie all das bereits erzählt haben, was sie sieben Jahre später während ihrer Haft am eigenen Leib erfahren sollte. Was der Verlag da insinuiert, ist allerdings eine Mogelpackung. Ein persönliches und politisches Schicksal in einem Land, das wegen seiner repressiven Politik spätestens seit Sommer 2016 im Brennpunkt des öffentlichen Interesses steht, wird aus Werbegründen so glattgebügelt, dass Literatur und persönliche Erfahrung deckungsgleich werden, zum „Zeugnis des durch eigenes Erleben beglaubigten Schreibens“ (Klappentext). Das ist zum einen eine Irreführung des Lesers und zeugt zum anderen von einer sehr biederen Auffassung von Literatur, die statt der Fiktion das persönliche Erlebnis zum Gradmesser des Schreibens erhebt.

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Zum einen ist Erdoğan Text kein Roman, vielmehr ein literarischer Essay mit lediglich angedeuteten Personen und ohne Handlung, wenn man von wenigen, sich wiederholenden Sequenzen absieht. Sie selbst schreibt in ihrem Vorwort zur deutschen Ausgabe, es handle sich um eine Geschichte ohne Anfang, Ende und Mitte. Die Situation ihres Landes mag sie bewegt haben, einen Text über die Sinnlosigkeit und Unerfüllbarkeit des Lebens (zumindest für den Grossteil seiner Bewohner) zu schreiben. Ästhetisch und formal erinnert er an die „zweite Moderne“ der sechziger Jahre, an frühe Texte von Peter Weiss, des jugoslawischen Autors Danilo Kis oder den nouveau roman in Frankreich. Das mag ästhetisch reizvoll sein, vermittelt aber keineswegs einen Einblick in das Innere einer türkischen Haftanstalt. Selbst in ihrem zwanzigseitigen Vorwort, in dem sie anlässlich eins Besuchs in Buchenwald wiederholt an Jorge Semprun erinnert, der dort gefangen war, äussert sich Erdoğan nur zurückhaltend über ihren Gefängnisaufenthalt. Der Eindruck, besonders auch nach der Lektüre des ziemlich summarischen und oberflächlichen Nachworts des Verlags, drängt sich auf, dass da mit heisser Nadel das Schicksal einer politischen Dissidentin zum Verkaufserfolg umgemünzt werden soll.

Jochen Kelter