Ein Schiff als soziologisches Labor

In der neuen Produktion des Micha Stuhl­mann Ensembles „Beine baumeln himmel­wärts“ ist bereits im Titel implementiert, dass es um Standpunkte und Blickwinkel geht. Was wir in einem Moment wahrnehmen und wie wir es wahrnehmen, hängt mit unserem Blickwinkel, dem Ort und der Situation, dem Befinden zusammen. Im Stück werden starre Sichtweisen aufgelöst und uns unser eigenes alltägliches Sozialverhalten wie in einer Laborsituation vorgeführt. Am 24. und 25. Februar ist es in der Konstanzer Spiegelhalle zu sehen.

Einen „Kunstentwurf zwischen Theater, Tanz und Videoinstallation“ nennt Regisseurin und „Ausruferin“ Micha Stuhlmann das Stück. Ausruferin, weil sie hin und wieder moderierend ins Geschehen des Stücks eingreift, bei dem sich ein paar aufgetakelte Leute auf eine Schiffsreise begeben. Drei große Videoscreens bilden die losen Wände für die Bühne. Die neun Ensemblemitglieder kann man als Charakterstudie in ihren Solo-Performances auf diesen Leinwänden sowie live auf der Bühne erleben.

Einsam trifft gemeinsam

Schon bei der milden Einführung, bei der die neun Damen und Herren in ihren Schiffskabinen je einzeln einen Eindruck von ihrem Wesen geben, muss man sich im Publikum für eine der drei Leinwände entscheiden, denn die Performances laufen zeitgleich: Möchte man Monika Guelat zuschauen, wie sie mit ihrem Pelzmantel spricht, als sei er ein Tier ˗ oder sucht sie darin jemanden? Oder entscheidet man sich für den feschen, schnauzbärtigen Tobias Schmidli, der im Frack gekleidet ein Lied zum Besten gibt, das von Sehnsucht handelt? „Allein und abgetrennt von allen,“ singt er in seiner Einzelkabine, „zähle ich die Sterne“.

Alle Neune reisen sie alleine, ohne Begleitung. Doch die illustre Meute, die unterschiedlicher kaum sein könnte, trifft schon bald auf Deck aufeinander. Gemeinsam schaukeln sie im Rhythmus der Wellen, die ihren Mikrokosmos, das Schiff, in Bewegung setzen. Zunächst noch höflich, erfreuen sich alle am Auftritt des anderen und stimmen auch ins Lied mit ein.

Suchen im Fremden

Urs Ilg ist ein schlacksiger Mann im weißen Anzug. Durch seine Größe überragt er die anderen. Er schreitet ruhig, freundlich und etwas steif durch den Trubel hindurch. Er ist der Kapitän und erzählt den Passagieren etwas über die Reiseroute, nach Mallorca soll es gehen. Das scheint aber eher nebensächlich, denn die Reise ist das Ziel.

Micha Stuhlmann sagt über ihr Stück, dass die Emotionen, die durch das Gesehene und Gehörte hervorgerufen werden, wichtiger seien als ein intellektuelles Verstehen. Wie gut ästhetisches bzw. synästhetisches Verstehen funktionieren kann, spürt man in einer schon fast archaischen Szenerie: Auf den Leinwänden wogt das weite blaue Meer, die Passagiere hocken beisammen. Und dennoch jeder für sich spielen sie auf der Mundharmonika, angeführt von den dunklen, tiefen, beruhigenden Tönen des Kontrabasses von Marc Jenny, sphärische Klänge.

Bis alle durchdrehen

Bald schon kommt es zu ersten Unstimmigkeiten bei so vielen Menschen auf engem Raum: Die Passagiere beginnen aus heiterem Himmel, sich zu beschimpfen, anzugiften, mit Vorurteilen und Beleidigungen um sich zu schmeißen, ein weiterer Akt der Sozialstudie. Denn treffen Fremde aufeinander, arbeitet man nach dem ersten distanzierten Beschnuppern, im Stück sogar mit Mundschutz als hygienischem Helfer gegen Ansteckungen symbolisiert, rasch mit Kategorisierungen; und Vorurteile sind da ein leichtes Mittel, sich ein schnelles Bild vom anderen zu basteln.

Beim Streit bleibt es aber nicht: Sehr erheiternd ist das „große, große Fressen“, das auf keinem Kreuzfahrtschiff fehlen darf; zubereitet übrigens direkt auf der Bühne, ebenfalls von Marc Jenny, der nicht nur Musiker, sondern auch Schiffs-Spaghettikoch ist und die Sinneseindrücke im Stück so noch um den olfaktorischen Sinn erweitert.

Besteck haben sie keines. Es wirkt auch unnötig, denn Lilly, Tobias und Gerda finden sehr einfallsreiche Möglichkeiten, wie man die lange Pasta genießen kann. Eine Mahlzeit, die richtig Spaß macht. Zum Essen gibs Wein, und der hilft bekanntlich, die Stimmung aufzulockern. So entwickelt sich bald aus dem Mahl ein mitreißendes Fest, bei dem Monikas Boa ihre Federn lässt. Spätestens hier fällt die vierte Wand zu den Zuschauern.

In „Beine baumeln himmelwärts“ beobachtet und dekonstruiert Micha Stuhlmann gemeinsam mit ihrem Ensemble menschliches Verhalten. Allgemeine Wertungen werden in Frage gestellt und neue Werte eröffnet. Das Schiff als abgeschlossener Raum auf hoher See fungiert hier als Labor, in das die Zuschauer Einblick erhalten, und an dem Experiment teilnehmen können. Mit den Videoaufnahmen der Einzelperformances (Raphael Zürcher) erarbeitete Stuhlmann mit den Ensemblemitgliedern bereits vorab eine Selbststudie, die in einer noch abgeschlosseneren Situation stattfindet, nämlich in einer Einzelkabine auf dem „Schiff“.

Die vielen Bilder und Sinneseindrücke wirken wie Trigger, die Reaktionen hervorrufen: bei den Zuschauern, aber auch bei den Spielenden, denen zwar auf der einen Seite eine feste Struktur im Stück vorgegeben ist, innerhalb dieser sie aber stets auf neue Gegebenheiten reagieren müssen. Inwieweit hier Rollen gespielt werden oder das Spiel ins Private kippt, ist Teil des Experiments.

Premiere war am 29. Oktober 2017 in der Shedhalle Frauenfeld, seitdem tourt das Ensemble durch die Schweiz. Termine: beinebaumeln.ch.

red – der Text erschien zuerst auf www.saiten.ch