Eine wagemutige Inszenierung

Ein Kind hüpft herbei und behauptet, der Tod habe sich in einem Baum verheddert. Menschen im fortgeschrittenen Alter bewegen sich, ganz unverbindlich, in einem Niemandsland, einem surrealen Warteraum. In seinem komisch-tragischen Stück blickt der kürzlich verstorbene Tankred Dorst ebenso sarkastisch wie humorvoll-mitfühlend auf das Alter. Aufgeführt wurde „Botschaften aus dem Niemandsland“ letzte Woche in Radolfzell.

Komfortzonen-BewohnerInnen werden ja – nicht nur hier am Bodensee – ungern behelligt mit gesellschaftlichen Ungereimtheiten, wollen möglichst nichts wissen z.B. von schadenfrohen alten Leuten, von enttäuschten Menschen, die in ihrer Liebe verraten wurden, die verbittert auf ihr Leben in Armut zurückblicken, und die Wohlsituierten fühlen sich umgehend genervt von frechen Kids, die Widerworte geben, die kritisch nachfragen, sich eben nicht einschüchtern lassen.

Solche realistischen Aspekte werden uns ZuschauerInnen im kleinen alternativen Zeller-Kultur-Theater allerdings durchaus zugemutet an diesen wunderschönen Juni-Abenden. Der große deutsche Dramatiker Tankred Dorst, der gerade vor drei Wochen im Alter von 91 Jahren gestorben ist, war mit seinen „Botschaften aus dem Niemandsland“ eine künstlerische Herausforderung, der die Regisseurin Waltraud Rasch und ihre „60-Plus“-SchauspielerInnen mit beeindruckendem Engagement entsprechen konnten. Vor allem ihre aufrichtige Haltung, neben sehr anrührenden sehnsuchtsvollen Anklängen im Sinne dieses schonungslos offenen Textes auch jede Menge unerfreulicher Abgründe Bilanz ziehender alter Menschen körpernah auf die Bühne zu stellen, ließ die ZuschauerInnen manchmal leicht geschockt, zumindest nachdenklich zurück.

Für Leute, die an einem solchen Sommernachtstraum-Abend nur was schön Harmonisches betrachten wollten, war diese Art der Konfrontation mit deren möglicherweise eigenen für sich selbst kaum akzeptablen Ambivalenzen eher eine unwillkommene Zumutung. Wer seine jeweils eigenen „Lebenslügen“ als solche lieber nicht zur Kenntnis nimmt, möchte weder die Nöte der anderen betrauern, noch das Ungerechte, noch das Unschöne wahrhaben, das uns jedoch alle neben den Momenten der Zuversicht immer umgibt.

Im kleinen, allerdings nicht nur gemütlichen Radolfzell gilt ja Joseph Victor von Scheffel als großes Idol der Heimatdichtkunst. Dieser plädierte 1850 in einem Gedicht jedoch für die in meinen Augen für Leib und Seele ungesunde Technik des unheilvollen Verdrängens: „Wie verklärt strahlt mir entgegen Gottes Welt, wie groß, wie weit. Zeller See, ich fühl den Segen deiner keuschen Herrlichkeit. Was gequält mich und gekränket, was des Denkens Folter war, tief zum Seegrund sei’s gesenket, sei vergessen immerdar.“

Insofern bietet die psychologisch genaue Inszenierung von Waltraud Rasch mit ihren überaus spielfreudigen Älteren – acht Frauen und einem Mann – sowie Patrick Wennrich als das freche „Kind im roten Kleid“ eine im besten Sinn anstößige Möglichkeit, uns konstruktiv mit der jeweils eigenen, eben auch nicht selten problematischen Lebenswelt vertrauter zu machen.

Marianne Bäumler (Foto: © Roland Lindenthal)

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