Erinnerungen an die Nachkriegszeit

Dass ein Historiker über die eigene, die persönliche Geschichte schreibt, ist wohl eher ungewöhnlich. Dass er es so assoziativ und bruchstückhaft tut, wie Ernst Köhler in seinem Erinnerungsband „Aus der Nachkriegszeit. Stolberger Notizen“, dass er sich dabei ganz der Dynamik seiner Erinnerungsbilder überlässt und erklärtermaßen nicht um Objektivität bemüht ist , das hätte man so von einem Historiker wohl gleichfalls kaum erwartet.

Kann ein scheinbar willkürlich zusammengestelltes Sammelsurium aus privaten Erinnerungsschnipseln für Außenstehende von Interesse sein? Kann es einen Blick auf die Zeitgeschichte ermöglichen und eine Epoche beleuchten? In seinem Vorwort stellt sich auch der Autor diese Frage.

1939 in Aachen zur Welt gekommen und in Stolberg aufgewachsen, hat Köhler den Krieg und die letzten Jahre des Nationalsozialismus als Kleinkind noch miterlebt. Einzelne Schlaglichter der Erinnerung fallen deshalb auch auf diese Zeit: sie erzählen vom Übernachten im Massenlager eines Luftschutzbunkers, vom schrecklichen Unfall eines polnischen Zwangsarbeiters in der Nachbarschaft oder von einem im Keller des Köhlerschen Hauses versteckten, verwundeten deutschen Soldaten, der – so die Phantasie des Autors- „dort still vor sich hin blutet“. Geschildert werden diese Ereignisse mit großer Nüchternheit und aus der Perspektive eines Kindes, für das die Lebensumstände zu Zeiten des Krieges Normalität bedeuten.

„Überall waren schon die Amerikaner“ – so ist dieser erste Teil des Buches übertitelt, in dem es dann vor allem um die unmittelbare Nachkriegszeit geht. Der Vater ist noch in Gefangenschaft, „Führungskraft der beschädigten kleinen Familie“ ist jetzt die Mutter. „Einmal wird der Mann ja auch wieder nach Hause kommen“ , sagt die Bauersfrau und schreibt an, wenn die Kinder Milch bei ihr holen. Es ist eine Kindheit „reich an Realitätskontakten“, wie der Autor das nennt. Der Sonntagsbraten kommt noch aus dem eigenen Stall, zu seiner Aufzucht mussten auch die Kinder beitragen. In der Volksschule, in die der Autor kurz nach Kriegsende eingeschult wird, beherrschen Jugendliche aus den armen, heruntergekommenen Altstadtvierteln das Unterrichtsgeschehen und bringen es oft genug zum Erliegen. Köhlers Familie hingegen ist – zumindest mütterlicherseits – eher privilegiert; das großväterliche Haus und Grundstück am Rande der Stadt kann zumindest die Grundbedürfnisse der Familie abdecken. Aber außer einem ehemals stattlichen Pferdewagen, der jetzt in einer Ecke des Hofes langsam verrottet, erinnert nicht mehr viel an die gutbürgerliche Vergangenheit.

Der zweite Teil des Buches widmet sich den 50er Jahren. Der Vater ist zurückgekehrt und die Familie zwar wieder vollständig, aber „… ob auch intakt, würde sich zeigen“ . Auch die hier zusammengefassten Erinnerungen an die Jugend des Autors in der damals ebenfalls noch jungen Bundesrepublik sind radikal subjektiv. Und doch: auf der Folie von scheinbar zufällig nebeneinander gestellten und bewusst episodenhaft erzählten Familienszenen und Alltagsbeobachtungen entsteht ganz beiläufig ein größeres, atmosphärisch dichtes Bild jener Zeit und ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit.

Köhler stellt Momentaufnahme neben Momentaufnahme, blättert in der Vergangenheit wie in einem Familienalbum und versucht die Gefühlslagen zu rekonstruieren, die für ihn mit den Ereignissen jeweils verbunden waren. Paradoxerweise gelingt ihm vor allem durch eine große Nüchternheit des Stils, indem er quasi dokumentiert, wie sich einzelne Erinnerungsfetzen zu Bildern und Szenen formieren, andere bruchstückhaft bleiben und vieles nicht mehr dem Dunkel des Vergessens zu entreißen ist. Aber es sind gerade auch diese immer wieder thematisierten Lücken und Leerstellen, die dem Text Spannung verleihen und beim Leser eigene Erinnerungsräume öffnen.

Die Eltern sind das zentrale Thema, um das der Text kreist. Die geliebte Mutter, der ungeliebte Vater und zwangsläufig auch die jeweils mit ihnen verbundenen Familienstränge. Je tiefer man sich aber hineinliest in diesen familiären Kosmos, desto deutlicher wird dabei, dass Erinnern auch immer mit Rekonstruktion bzw. Konstruktion des eigenen Ich zu tun hat. Indem er Szenen aus dem Leben der Eltern vorbeidefilieren lässt und über sein Verhältnis zu ihnen nachdenkt, begegnet der Autor auch sich selbst. Vor den Augen der Leser entsteht so das Bild zweier Generationen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: in der Generation der Eltern geht es um Selbstbehauptung, um eine Bewahrung dessen, „was die Lebensumstände von ihnen übrig gelassen hatten.“ Der Generation des Sohnes dagegen ist ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand vergönnt, mit Selbstverwirklichung als oberster Maxime.

Ernst Köhlers Buch „Aus der Nachkriegszeit“ ist keine Abrechnung mit der Generation der Väter (und Mütter) geworden. Vielmehr könnte man sie als Hommage an die Lebensleistung der Eltern bezeichnen, die nachdenklich macht und zu lesen lohnt.

Hilde Schneider (Text & Foto)


Ernst Köhler, „Aus der Nachkriegszeit: Stolberger Notizen“, 149 Seiten, 9,80 Euro. Erschienen bei Amazon.