Erkennen Sie die Melodie?

Wenn die Südwestdeutsche Philharmonie in dieser Woche mit einem attraktiven russisch-sowjetischen Programm aufwartet, gilt es, nicht nur ideologisch, sondern auch musikalisch wachsam zu sein, denn zumindest eines der Werke des Abends bietet große Musik. Aus diesem Anlass ein kurzer, postfastnächtlicher Streifzug durch die Musikgeschichte.

Hand aufs Herz: Die Handlungen und vor allem Texte der meisten Opern des 18. und 19. Jahrhunderts sind von einer derartigen Schlichtheit, dass sie bestenfalls das Gemüt eines gestählten RTL-Guckers erweichen könnten, wenn der denn nicht sofort wegzappen würde. Aber die den Operngesang begleitende Musik schafft es, einen so gnädigen und bezaubernden Schleier um diese gedanklichen Wüsteneien zu legen, dass man seit mehreren Jahrhunderten zentrale Lagen der Innenstädte nicht nur für Handel, Wandel und ganz normale Formen der Prostitution, sondern auch für Opernhäuser zu reservieren pflegt.

Zur Kopfstimme verkümmert

Das Unbehagen an der Oper ist nicht von ungefähr wesentlich älter als die Oper selbst. „Brennt die Opernhäuser nieder,“ riet schon Aristoteles. [4] „Sprengt die Opernhäuser in die Luft!“, forderte gar lautstark und ganz auf der Höhe der technischen Entwicklung der Komponist und Operndirigent Pierre Boulez, der es ja wissen musste. [3] Am radikalsten aber setzte sich mit dem Phänomen Oper Ernst von Pidde auseinander. Ihn interessierte die Geschichte der Oper, die in der Spätrenaissance als Wiederbelebung der altgriechischen Tragödie vom Zaune gebrochen wurde, herzlich wenig. Er nahm die Oper vielmehr, wie er sie bei seinem Feinde Richard Wagner vorfand, und unterzog sie einer radikalen Kritik.

Dieser große Opernphilosoph forderte: „Opern künftig ohne Musik aufzuführen, sollte sich jedes fortschrittliche Operninstitut zur vornehmsten Pflicht machen.“ [1]
Hat Pidde damit wirklich die Axt an den morschen Stamm des ehemals adeligen und zu seiner Zeit schon zutiefst bürgerlichen Opernbetriebs gelegt? Wohl kaum. Von Pidde ist gewiss zuzustimmen, dass der finanzielle Nutzen solcher Aufführungen ohne Musik beträchtlich wäre, „da die Opernorchester mit ihren vielfach recht kostspieligen Dirigenten umgehend in Wegfall kämen.“ Auch ist ihm recht zu geben, dass „damit der wenig erfreuliche Typus des Operntenors, dem systematisch entscheidende Teile des Hirns zur Kopfstimme verkümmert werden, zum Aussterben verurteilt“ wäre.

Vom Kopf auf die Füße

Doch wie so oft gilt es auch hier, den Philosophen vom Kopf auf die Füße zu stellen: Nicht Orchester und Dirigent müssen wegfallen und durch die reine Deklamation des zumeist grenzdebilen Textes ersetzt werden. Vielmehr sollte allein der Instrumentalpart gespielt werden, jedes begleitende Sprechen und Singen hat zu entfallen. Damit wäre das Piddesche Ziel einer Einsparung öffentlicher Mittel besser zu verwirklichen, denn statt nur eines kostspieligen Dirigenten würden gleich zahlreiche habgierige und teils grässlich eitle Sängerinnen und Sänger in Wegfall kommen und der öffentliche Etat erheblich entlastet. Übrig bliebe bei diesem Verfahren, was allein an der Gattung Oper erhaltenswert ist: Die Ouvertüre (=Eröffnungsmusik), manchmal nebst einigen mehr oder minder possierlichen Zwischenmusiken.

Ob dieses Konzept dereinst aufgehen könnte, lässt sich in dieser Woche überprüfen: Die Südwestdeutsche Philharmonie beginnt ihre drei Konzerte unter dem Dirigat von Markus Huber nämlich mit Glinkas Ouvertüre zur Oper „Ruslan und Ljudmila“ (1842). Dieses schmissige Werk ist gerade in Deutschland unvergessen, diente es doch Ernst von Stankowskis grauenhaft charmanter Fernsehshow „Erkennen Sie die Melodie?“ in den „bleiernen Jahren“ (Adorno) nach 1969 als Titelmelodie. [2]

Der Sprung ins 20. Jahrhundert

Die Ouvertüre zu „Руслан и Людмила“ gilt als eines der ersten Werke einer eigenständigen russischen Musikkultur, hat auch heute noch Ohrwurmqualitäten und eignet sich deshalb genauso gut als Eröffnung wie als Rausschmeißer. Auf jeden Fall ist das Stück ein deutlicher Kontrast an einem Konzertabend, der sonst nicht allzu heiter daherkommt. An Glinkas Ouvertüre schließen sich nämlich zwei Werke von Schostakowitsch an.

Das musikalisch eindrucksvollste Werk des Konzertes ist Schostakowitschs 1. Cellokonzert Es-Dur op. 107, das er 1959 seinem Freunde, dem Großcellisten Mstislaw Rostropowitsch, in die Saiten schrieb. Als Solist agiert Julian Steckel (Foto), der auf einige renommierte Preise verweisen kann. Das Konzert ist ein typischer Schostakowitsch aus seiner mittleren Phase, ehe seine Werke bis zu seinem letzten Streichquartett und seiner finalen Sonate für Viola und Klavier (op. 147, 1975) nach und nach immer stiller, inwendiger und trostloser zu werden begannen. Dieses Cellokonzert bietet alles, was die Gattung ausmacht: Virtuosität, gelegentlich romantischen Schmelz und immer wieder auch jene gewisse sarkastische Trübsal, die Schostakowitsch so sympathisch macht.

Nach der Pause folgt dann Schostakowitschs 5. Sinfonie, sein vermutlich am häufigsten gespieltes Werk. Mit diesem Stück wollte Schostakowitsch bekanntlich nach Angriffen auf seinen angeblichen „Formalismus“ („Chaos statt Musik“ hieß es in der Prawda) [5] wieder Gutwetter machen. Deshalb ist das Werk mit „Schöpferische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik“ überschrieben und ziemlich harmlos. Aber wachsweich sind Reaktionen auf Kritik ja meistens, mag die Kritik nun berechtigt oder – wie in Schostakowitschs Fall – gänzlich unberechtigt sein.

Öffentliche Generalprobe

Ein Tipp: Einen hervorragenden Einblick in die Arbeit des Orchesters bietet die Südwestdeutsche Philharmonie am Mittwoch, 8. März, um 9.30 Uhr: Dann können Interessierte im Konstanzer Konzil der öffentlichen Generalprobe dieses Konzertes beiwohnen und Dirigent, Orchester und Solist bei der Arbeit zusehen und -hören. Karten hierfür sind für 5 Euro ausschließlich an der Tageskasse erhältlich, die um 9 Uhr öffnet. Wie sagte schon der große Sergiu Celibidache auf die Frage, wie man am besten etwas über Musik lerne? „Kommen Sie auf unsere Probe.“

***

[1] Sein posthum 1968 erschienenes epochales Werk „Richard Wagners ‚Ring des Nibelungen‘ im Lichte des deutschen Strafrechts“ ist noch immer erhältlich und belegt bei amazon ein Bestseller im Bereich der germanistischen Semiotik. Das sollte den Semiotikern endlich das Handwerk legen!

[2] Behauptungen, diese Titelmelodie sei in Wirklichkeit die Ouvertüre zu Emil Nikolaus von Rezniceks „Donna Diana“, sind strikt zurückzuweisen. Beide Werke sind in Dauer, Melodik, Begleitung, Aufbau, Besetzung und Ausdrucksgehalt identisch. Das Werk von Glinka wurde allerdings 52 Jahre früher uraufgeführt und ist damit eindeutig als das Original zu betrachten. Dass Glinka anders als der russischste aller russischen Komponisten, Mussorgski, zwar eines frühen Todes, aber nicht am Alkohol starb, spricht zwar gegen seine Persönlichkeit, seinen Charakter und seine Musik, aber nicht gegen seine Urheberrechte.

[3] „Sprengt die Opernhäuser in die Luft!“ Gespräch mit den Spiegel-Redakteuren Felix Schmidt und Jürgen Hohmeyer.“ In: Der Spiegel Nr. 40, 25. September 1967, S. 166–174.
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46353389.html

[4] Dieser Rat stammt aus dem verlorenen (und vielleicht nie geschriebenen) dritten Buch seiner „Poetik“. Wie Konfuzius zu sagen pflegte: „Gäbe es dieses Buch, würde es beweisen, dass ich recht habe.“

[5] Der berühmte Artikel aus der Prawda vom 28.01.1936 hier in deutscher Übersetzung:
http://www.schostakowitsch.de/.cm4all/iproc.php/Chaos%20statt%20Musik.pdf?cdp=a&cm_odfile

MM, Harald Borges; (Photo: © Giorgia Bertazzi)

Wann: Mittwoch, 08.03., um 20 Uhr; Freitag, 10.03., um 20 Uhr; Sonntag, 12.03., um 18 Uhr.
Wo: Konzil, Konstanz
Karten: 18 bis 48 Euro, Preiskategorien und Ermäßigungen: http://www.philharmonie-konstanz.de/karten-und-service/kartenpreise.html
Karten sind bei der Südwestdeutschen Philharmonie (9.00 Uhr bis 12.30 Uhr), dem Stadttheater Konstanz (07531 900-150), bei der Tourist-Information am Hauptbahnhof sowie allen Ortsverwaltungen erhältlich. Tickets können auch im Internet gekauft und ausgedruckt werden: www.philharmonie-konstanz.de.