„Es ist heute zu wenig, nur Konzerte zu spielen“ [I]
Das SWR Symphonieorchester ist ein weltweit anerkanntes Aushängeschild des Ländles. Aber was heißt es, in einem solchen Orchester zu spielen, wie sind die Arbeitsbedingungen unter Corona – und wie sieht die Zukunft von Symphonieorchestern, speziell von Radioorchestern, aus? Werden sie eine Zukunft haben oder in einer zunehmend unübersichtlicher und oft auch eintöniger werdenden Senderlandschaft zwischen Dudelfunk und Showgeplapper dem Rotstift zum Opfer fallen? Ein Gespräch mit zwei Musikern.
Auch die klassische Musikszene hat sich in den letzten Jahren nicht nur durch Corona verändert. seemoz unterhielt sich mit zwei MusikerInnen über ihre beruflichen Erfahrungen und den Zauber der Musik. Das Gespräch erscheint ab heute in insgesamt drei Teilen.
Teil II lesen Sie hier. Teil III finden Sie hier.
seemoz: Ihr beide wart über Jahrzehnte hinweg dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg verbunden und spielt heute im SWR Symphonieorchester. Dieses Orchester entstand im September 2016 durch die Zusammenlegung des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR (RSO) und „Eures“ SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. Du, Benno, bist dort seit vierzig Jahren festangestellter Hornist, du, Christoph, seit 1982 freischaffender Orchesterpianist. Im Vorfeld der Zusammenlegung, die vor allem durch ein langsames Absenken des Personalbestandes Geld sparen soll, gab es öffentliche Kontroversen über diesen Kulturabbau durch den SWR. Wie hat sich denn das zusammengelegte Orchester aus Eurer Sicht entwickelt?
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Benno Trautmann: Wir sind ein Riesenorchester, das sich für mich etwas nach Patchwork-Familie anfühlt. Man spürt eben nach wie vor die beiden doch recht unterschiedlichen Traditionen der beiden Orchester.[2] (Grinsend:) Baden-Württemberg besteht aus zwei sehr speziellen Landesteilen, und das spiegelt sich in unserem Orchester wider.
Aber wir hatten ungeheures Glück: Ohne unseren jetzigen Dirigenten Currentzis[1], ohne den komplett neuen Schwung und die Begeisterung, die er reinbringt, wäre dieses zusammengestückelte neue Orchester wohl eine Katastrophe geworden, weil hier zwei Musikkulturen aufeinandertrafen. Wir aus Freiburg waren immer ein sehr selbstbestimmtes Orchester mit sehr flachen Hierarchien, und es war bei uns durchaus üblich, dass ein Geiger von einem der hinteren Pulte den Arm hebt und fragt, wie er eine Stelle spielen soll. Bei den Stuttgartern orientierte man sich eher ganz traditionell an den sogenannten Leistungsträgern vorn in den Solopositionen.
seemoz: Welche Erfahrungen hast du als Personalvertreter im Kampf gegen die Zusammenlegung gemacht?
Aus zwei mach‘ eins
Benno Trautmann: Wir Freiburger haben ja damals wie die Löwen dagegen gekämpft. Dieser Kampf hat möglicherweise mit dazu beigetragen, dass jetzt viel mehr geht als früher, dass Geld fürs Marketing und andere Dinge in die Hand genommen wird. Der damalige Hörfunkdirektor Gerold Hug, der beim Antritt seiner neuen Position die Orchesterfusion von seinem Vorgänger geerbt hatte, hatte definitiv nicht damit gerechnet, welch Wind ihm aus der Öffentlichkeit und dem Orchester ins Gesicht blasen würde. Die Einzigartigkeit, die Bekanntheit des Orchesters in „der Szene“ war den Verantwortlichen im SWR nicht wirklich bewusst. Das SWR-Bashing in den Feuilletons traf sie eher unvorbereitet.
Trotz der positiven Entwicklung bleibt das natürlich ein tragisches Kultursterben, weil ein Orchester nicht so viele Konzerte spielt wie zwei Orchester und auch nicht so viele Education-Projekte durchführen kann.
seemoz: Ihr habt damals letztlich eine Niederlage erlitten?
Benno Trautmann: Ja. Erschwerend kommt hinzu, dass wir jetzt mit unserem Erfolg das Gegenteil von dem beweisen, was wir während unseres Kampfes gegen die Fusionierung immer behauptet haben, nämlich dass das auf keinen Fall funktionieren kann – und jetzt funktioniert es doch. Damit liefern wir leider die Blaupause für die nächsten Zusammenlegungen. Die Intendanten werden sagen, was wollt ihr denn? Schaut mal Freiburg und Stuttgart an, das waren völlig verschiedene Welten, 250 Kilometer auseinander, und es hat geklappt. Das ist ein großes Problem an unserer Erfolgsgeschichte. Der Glücksfall Currentzis wird da leicht als normal angesehen.
seemoz: Wird es denn auch in anderen Sendern und sonstigen Institutionen weitere Zusammenlegungen geben?
Benno Trautmann: Derzeit sind sie gerade dabei, den WDR-Chor zu verkleinern, und zwar mit unglaublichen Begründungen. Nicht nur, dass man damit Geld sparen will, das natürlich auch, (er wird sarkastisch) aber man will damit den SängerInnen ja eigentlich nur ungeahnte neue Möglichkeiten bieten. Die kriegen nämlich nur noch halbe statt ganzer Stellen und sollen so endlich die Freiheit erhalten, sich in anderen Projekten außerhalb des Senders besser als bisher künstlerisch zu verwirklichen. Das ist der Originalton, und das ist natürlich völlig lächerlich. Auch das Orchester in Saarbücken dürfte sich irgendwann im Schoße eines anderen Orchesters wiederfinden, ob es nun nach Hessen geht oder zu uns kommt – 30 der Stellen zahlt nach der dortigen Fusion mit unserem ehemaligen Rundfunkorchester sowieso der SWR. Unser Intendant Kai Gniffke hat gerade einen Vorstoß beim SR unternommen, alle Formen der Zusammenarbeit unterhalb einer Senderfusion voranzutreiben. Aber das ist natürlich eine politische Frage.
seemoz: In welchem Sinne?
Musikpolitik
Benno Trautmann: Das ist parteipolitisch und kulturpolitisch bestimmt. Die ARD soll eine eierlegende Wollmilchsau sein. Macht sie ein zu gutes Programm, hat sie schlechtere Einschaltquoten, dann heißt es, ihr kriegt so viel Geld und habt nur so wenige Zuhörer. Machst du ein schlichtes Programm, kriegst du eine hohe Quote, aber dann heißt es, was ihr da macht, können die Privaten doch auch, wofür braucht ihr dann noch Rundfunkgebühren? Die Politik muss endlich mal die Courage haben zu sagen, wir wollen Qualität …
seemoz: Benno, was macht es mit dir, wenn es einen derartigen Ärger um die Erhöhung der Rundfunkgebühren gibt wie aktuell?
Benno Trautmann: Wenn jetzt selbst die CDU damit anfängt, gegen die Öffentlich-Rechtlichen zu schießen, und dann auch noch zusammen mit der AfD, dann ist das ein bedenkliches Zeichen. Es geht ganz offensichtlich nur darum, auf Kosten der Kultur Wählerstimmen am rechten Rand zu fischen. Wir reden hier über 0,86 € pro Monat, das sind zwei Zigaretten, und daran geht niemand zugrunde, finanziell gesehen. 86 Cent sind, wenn ich richtig orientiert bin, 5% mehr, und das für einen Zeitraum, in dem die Inflation 15% betragen hat. Das ist ein Witz!
Wir alle erleben Tag für Tag, wie wichtig öffentlich-rechtlicher Rundfunk ist. Wir müssen ja nur nach Italien mit seiner Privatrundfunklandschaft schauen oder in die USA, in das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten, um zu sehen, was das Fehlen eines starken öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus einem Land machen kann. Ich denke, der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland wird sich verändern, die Zahl der Rundfunkanstalten wird sinken. Ich denke aber nicht, dass es ein finanzielles Problem ist, denn es wird sehr viel für relativ wenig Geld angeboten – ein einziger Kinobesuch für eine Person kostet ja mitunter mehr als ein Monat ARD und ZDF für einen ganzen Haushalt.
Unsere Kinder sind in den öffentlich-rechtlichen Sendern kaum unterwegs, sondern benutzen andere Medien. Das führt dazu, dass die Sender sich immer mehr ins Internet verlagern, dass es etwa eine Tagesschau-App gibt, gegen die dann die Verleger klagen, die sich ja selbst finanzieren müssen. Die Verlage rächen sich auch, indem sie die öffentlich-rechtlichen Sender in ihren Publikationen schlechtmachen. Die FAZ etwa kann ich nur noch lesen, wenn ich mir das rechte Auge zu halten, denn dort ist auf einmal nur noch von „Zwangsgebühren“ die Rede.
seemoz: Benno, du warst viele Jahre lang in der Personalvertretung des Orchesters aktiv. Was sind die wichtigsten Erfahrungen, die du dort gesammelt hast, und was siehst du als die größten Gefahren oder Bedrohungen, mit denen sich Personalvertretungen im SWR oder in anderen Orchestern in den nächsten Jahren beschäftigen müssen?
Musik vermitteln
Benno Trautmann: Man muss immer darum kämpfen, dass ein Klangkörper innerhalb einer Anstalt angemessen wahrgenommen wird, und dass den Intendanten und Hörfunkdirektoren die Wertigkeit ihres Orchesters bewusst bleibt, damit sie das auch in die Rundfunkräte der Länder hineintragen. Dazu müssen wir auf den entscheidenden Festivals spielen und in die Gesellschaft hineingehen und uns dort zeigen. Wir müssen uns um neues Publikum kümmern, damit die Säle voll bleiben und unsere gesamte Orchesterkultur auf Dauer weiterleben kann. Früher hat Papa sonntags gesagt, es ist sechs Uhr, macht euch schick, nachher gehen wir in die Oper, so etwas gibt es heute nicht mehr. Ich denke etwa gern an unser Projekt mit den „Söhnen Mannheims“ zurück, damals war Xavier Naidoo noch nicht völlig ausgeflippt, in der SAP Arena waren 9000 Leute, und wir haben neben deren Songs auch unser Repertoire gespielt, Schostakowitsch, Ligetis „Atmosphères“, und die Leute waren mucksmäuschenstill und haben zugehört. Du brauchst heute, um die jüngeren Generationen für diese Musik zu öffnen und zu gewinnen, irgendeinen Star, der vorne steht und sagt, hört euch das an. Der Papa mit der Oper am Sonntagabend, der funktioniert nicht mehr.
Christoph Grund: Ich bin nicht ganz Deiner Meinung, denn ich denke, die Rundfunksymphonieorchester, wie wir sie in ihrer derzeitigen Form kennen, müssen entschlossener in die Zukunft schauen. Sie müssen schauen, dass die Musiker sich anders positionieren und nicht nur als hochkarätige Musiker auftreten, die ganz toll sinfonische Musik spielen können, denn das wird wohl nicht ausreichen. Es bedarf eines größeren Engagements, um das Interesse der Gesellschaft an den Orchestern am Leben zu halten. Dazu müssen neue Formen gefunden werden, in denen klassische und sonstige anspruchsvolle Musik überhaupt in der Gesellschaft wirken kann.
Interesse wecken
Es gibt zwar diese Education-Programme aller Kulturinstitutionen, aber ich finde, das sind meist reine Alibi-Veranstaltungen. Ich weiß von den Berliner Philharmonikern, dass sich nur weniger MusikerInnen daran gern beteiligen. Ich kenne es ja auch ein wenig vom SWR, wo nicht alle Beteiligten immer wirklich begeistert dabei mitmachen. Wir als klassische Musiker müssen endlich aufwachen. Es gibt so viele Menschen, die im weitesten Sinne kulturell tätig werden, auch in der bildenden und darstellenden Kunst. Mein Freund Ulf Aminde z.B., mit dem ich letztes Jahr eine Filmoper für den öffentlichen Raum konzipiert habe, ist ein Aktivist gegen Rechtsradikalismus und Rassismus und hat ein Projekt mit Obdachlosen veranstaltet. Er sucht nach Formen, wie künstlerische Arbeit gesellschaftliche Veränderung herbeiführen kann, und das hat mir wichtige Impulse für meine zukünftige Arbeit gegeben. Es ist heutzutage einfach zu wenig, zu sagen, wir spielen ganz toll klassische Konzerte.
Benno Trautmann: Ich gebe dir recht, hier muss sicherlich auch finanziell mehr geschehen.
Christoph Grund: Das stimmt, in diesen Bereich wird nicht wirklich investiert. Den Dirigenten und Solisten werden utopische Summen bezahlt, in den Kontakt zum Publikum und zu nachfolgenden Generationen wird nur ein winziger Bruchteil der Gelder des Orchesters gesteckt. Außerdem gibt es heute ja auch kaum noch Musikunterricht an den Staatsschulen.
Benno Trautmann: Ja, du hast entweder Musik oder du hast Kunst, und mittlerweile kann ja auch jeder Musik unterrichten, so wie mittlerweile jeder Lehrer werden kann, egal, wie quer er eingestiegen ist und was er von der Sache versteht. Musik zählt einfach nicht.
Noch eine andere ganz wichtige Funktion, die Schulprojekte leisten können, ist schlichtweg die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund ebenso wie der immer stärker wachsenden „bildungsfernen“ Schichten. Wenn Kinder in einem Projekt zusammenarbeiten und hinterher das Ergebnis präsentieren, ich kenne das etwa aus dem Martin-Gropius-Bau in Berlin, gehen hinterher Menschen ins Museum, die dort noch nie zuvor in ihrem Leben waren, einfach deshalb, weil sie stolz auf ihre Kinder sind und sehen wollen, was die da gemacht haben. Das hilft nicht nur bei der Integration der Kinder, sondern auch bei der Integration der Eltern, die plötzlich erleben, dass ihre Kinder tatsächlich wertgeschätzt werden. Da gebe ich dir recht, da muss ganz, ganz viel passieren, und ich denke, da sind Museen schon wesentlich weiter als wir MusikerInnen.
Das Gespräch führte Harald Borges. Fotos oben: links Benno Trautmann (Privatbesitz), rechts Christoph Grund (fotografiert von Anna Falkenstein). Mitte: SWR Symphonieorchester mit dem Dirigenten Teodor Currentzis (SWR). Unten: Christoph Grund (Privatbesitz).
Christoph Grund arbeitet als Pianist mit führenden Orchestern und Ensembles zusammen, ist ein gefragter Kammermusiker und Liedbegleiter und entwickelt mit namhaften Komponisten wie Mark Andre, Samir Odeh Tamimi, Sarah Nemtsov oder Iris ter Schiphorst neue Klaviermusik, oft in Verbindung mit elektronischen Klangerweiterungen. Er ist regelmäßig bei internationalen Festivals zu Gast. Als Komponist wurde er von seinen Lehrern Eugen Werner Velte, Mathias Spahlinger und Wolfgang Rihm geprägt, aber auch durch die enge Zusammenarbeit mit Michael Gielen, Pierre Boulez oder Hans Zender als Pianist im SWR Symphonieorchester. Die Liste seiner Kompositionen umfasst Tonbandstücke und elektronische Musik, Musik zu Kunstvideos, Hörspielmusiken, Solo- und Kammermusik, Werke für Chor und für Kammerorchester, Musiktheater und eine Filmoper. Seine Kenntnisse gibt er in Gastseminaren an europäischen Hochschulen weiter. www.christophgrund.de
Benno Trautmann hat an der Musikhochschule Köln bei Prof. Erich Penzel studiert. Seit 1981 ist er als Hornist im SWR Symphonieorchester, damals SWF Sinfonieorchester, tätig. Er hat sich in dieser Zeit innerhalb des Orchestervorstands und anderer Gremien für die Belange des Orchesters engagiert.
Anmerkungen
Quelle: Wikipedia
[1] Teodor Currentzis, *24. Februar 1972 in Athen, ist ein griechisch-russischer Dirigent, Musiker und Schauspieler. Er ist seit 2018 Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters.
[2] Es ging im September 2016 aus der Zusammenführung des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR (RSO) und des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg hervor. Sitz des neuen Orchesters ist Stuttgart.
Seit der Saison 2018/19 ist Teodor Currentzis Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters. Nach Ablauf seiner dritten Spielzeit hat er jetzt seinen Vertrag um drei weitere Jahre verlängert, wie der SWR mitteilte.