Europa – lahm aber sexy?

„Da läuft ein Schwein!“ beginnt die Inszenierung von „Die Hauptstadt“, die vergangenen Freitagabend im Stadttheater Premiere feierte. Der Brüsseler Holocaust-Überlebende David de Vriend (Peter Cieslinski), der für seinen letzten Lebensabschnitt seine Wohnung zugunsten eines Altersheims verlässt, sieht es als Erster durch die Straßen der belgischen Hauptstadt laufen. Doch es werden noch mehr Menschen werden, die das Schwein sehen, und deren Schicksale sich dank der Europäischen Union auf alltägliche Weise kreuzen.

Mark Zurmühle verantwortete die Bühnenfassung und Inszenierung des preisgekrönten Romans von Robert Menasse und spinnt geschickt ein Netz einzelner Schicksale, die – von einem Schwein durchkreuzt – an Bedeutung verlieren.

Was haben ein polnischer Auftragskiller und ein österreichischer Bürohengst gemeinsam?

Da ist Matek Oswiecki (Sebastian Haase) alias Mateusz alias Richard, der polnische „Soldat Christi“, der einer Geheimorganisation angehört und glaubt, in deren Auftrag den Falschen erschossen zu haben. Da ist die Zypriotin mit griechischem Pass Fenia Xenopoulou (Johanna Link), die in der Europäischen Kommission Karriere machen möchte, aber von der Finanzdirektion in so ein ‚unwichtiges‘ Ressort wie „Kultur“ wegbefördert wird. Martin Susman (Dan Glazer), ein depressiver EU-Bürokrat aus Österreich, soll ihr dabei helfen das „Big Jubilee Project“ zu Ehren des 50-jährigen Jubiläums der Kommission zu realisieren. Kai-Uwe Frigge (Georg Melich), ein Hipster-Lumberjack, steigt ab und an mit ihr ins Bett und hängt ansonsten größtenteils an seinem Smartphone rum („Jaja, ich hör dir zu. Nur die Mailbox“). Prof. Alois Erhart (Ingo Biermann), Akademiker der alten Schule, soll in der „Reflection Group New Pact for Europe“ Auswege aus der Krise finden und muss feststellen, dass seine jungdynamischen Thinktank-KollegInnen gar kein großes Interesse an einer wirklichen Weiterentwicklung der Europäischen Union haben. Sie alle können sich frei bewegen in dem gemeinsamen System, das sich Europa nennt, und verfolgen dennoch unterschiedliche Ziele.

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Zurmühles Hauptstadt

Das Bühnenbild in Zurmühles Inszenierung ist simpel gehalten. Die Bühne verfügt über weiße Seitenwände, eine in unterschiedlichen Farben erstrahlende glitzernde Rückwand und ein EU-blaues Schiebeelement mit Durchgang, mit dem die DarstellerInnen nahezu beiläufig ihre jeweiligen Szenen gestalten (Ausstattung: Eleonore Bircher). Bei so einer modernen Inszenierung ist eine offene Hinterbühne mittlerweile selbstverständlich. Der gezielte Einsatz weniger Requisiten animiert die Fantasie des Publikums soweit, dass im Kopf sofort ein vollständiges Bild entsteht: ein schickes Restaurant, das Innere eines Flugzeugs, ein Unterwäsche-Geschäft, um nur wenige Szenerien zu nennen. Für einige Lacher im Zuschauerraum sorgt die Sackkarre, die kurzerhand als Taxi fungierte. Das Licht (Hendrik Rück und Moritz Läpple) spielt eine entscheidende Rolle, denn es ist maßgeblich verantwortlich für die jeweilige Stimmung. Mal mischt sich blau mit grün, wenn Martin Susmann in Auschwitz friert. Dann leuchtet es kaltweiß, wenn Fenja in einem sprichwörtlichen Gefecht ihr Projekt dem Kommissionsvizepräsidenten (auch Peter Cieslinski) vorstellt. Licht und Schatten (des EU-Betriebs) werden bewusst in Szene gesetzt. Auch die Musik (Artist in Residence Francesco Tristano) unterstützt mal laut mit Techno-Beats in der Reflection Group, mal leise mit nur einzelnen Tönen die Dynamik der Handlung.

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Die Europäer

Die Kostüme (Eleonore Bircher) unterstreichen mit Liebe zum Detail die unterschiedlichen Wesenszüge der Figuren. Kai-Uwe trägt eine verspiegelte Pilotenbrille, Martin immer seinen grauen Anzug („Das bin einfach ich“) und Prof. Erhart ist nie ohne Mantel und Schlapphut zu sehen. Bei einem Mitglied der kreativ-innovativen Reflection Group, das im Übrigen erstklassig hibbelig durch Johanna Link verkörpert wird, darf selbstverständlich ein buntes Batik-Shirt nicht fehlen. Ohnehin stellt Johanna Links Performance ein Highlight des Abends dar. Jede ihrer Rollen, und das sind von der ältlichen Angora-Unterwäscheverkäuferin bis zur überzeugten Anti-Abschiebe-Aktivistin so einige, füllt sie in einer selbstironischen und komödiantischen Art und Weise absolut aus. Nichtsdestotrotz ist auch die Leistung ihrer Ensemblekollegen bemerkenswert. Peter Cieslinski gibt einfühlsam den abgeklärten Greis, der mit seinem Leben zwar irgendwie abgeschlossen hat, dann aber doch nicht ins Heim möchte, wo alles – sogar das Bild an der Wand – angeschraubt ist. Ingo Biermann zeigt sein Clownstalent mit einem Aktenkoffer – Prof. Erhart ist das einzige Thinktank-Mitglied mit so einem antiquierten Accessoir, was bei ihm nachhaltiges Unbehagen auslöst. Last but not least brilliert Sebastian Haase mit seiner packenden Erzählweise – obwohl die Erzählerrolle zwischen allen Ensemblemitgliedern wechselt, so nimmt er die BesucherInnen am besten mit auf Reisen.

Auschwitz als Hauptstadt der EU?

Martin Susmann hatte die Idee für das „Big Jubilee Project“, Auschwitz als Geburtsort der Europäischen Union zu stilisieren. „Die europäische Kommission funktioniert nicht wie der österreichische Bauernbund“, erklärt er etwas enerviert seinem Bruder, der einen Markt für europäische Fleischabfälle („Schweinsohren“) in China sieht. Man fragt sich, ob er nicht Unrecht hat, wenn sich zeigt, dass der Vize-Präsident der Kommission sowie sämtliche Mitgliedsstaaten Fenjas Projekt, die EU wieder „sexy“ zu machen, torpedieren. Kai-Uwe schlägt Fenja schließlich einen Wechsel ihrer Staatsangehörigkeit für ihren beruflichen Aufstieg vor – Zypern als Neuzugang hat noch mehr Pöstchen zu vergeben. Fast Allen in diesem Stück geht es um ihr eigenes Fortkommen – und dazu ist das gute Image der Union nur Mittel zum Zweck. Der einzige Idealist ist Prof. Erhart, der ein feuriges Plädoyer für die Überwindung der Nationalstaatlichkeit und die EU als nachnationale Gemeinschaft hält. Als Hauptstadt der neuen EU schlägt er Auschwitz vor. Auschwitz, das sei der Geburtsort der Europäischen Union. Für den geneigten Zuschauer wirkt das doch zu idealistisch: Die EU wurde aus Kohle und Stahl geboren und dieser wirtschaftsliberale Kern prägt bis heute die meisten Politiken.

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Doch immerhin hat Prof. Erhart eine konkrete Vision, was sich deutlich von den momentan kursierenden Wahlwerbungen so mancher Partei abhebt. Slogans wie „Europa – die beste Idee, die Europa je hatte“ oder „Kommt zusammen für Europa“ oder „Weil wir Europa lieben, wollen wir es verändern“ klingen inhaltsleerer denn je und bereiten Nationalisten fruchtbaren Boden. Der Chef der EVP-Denkfabrik Roland Freudenstein wirft Menasse (wohl aus Angst um seine eigene Position) vor, dass er mit seinem Roman Europa „kaputt“ schreibe. So sehe ich das nicht. Menasse kritisiert lediglich die Gelähmtheit der EU, die sie so unbeliebt macht. Was man von diesem Stück nicht sagen kann: Zurmühles Inszenierung war jedenfalls saugut.

F. Spanner (Foto: Ilja Mess)


Weitere Aufführungen: 28.5. | 1.6. | 2.6. | 4.6. | 6.6. | 8.6. | 12.6.