Fängt beim Dreiklang der Faschismus an?

Alle reden mit Intendanten über Geld, Besucherzahlen, Marketingstrategien und Kulturpolitik. Wir haben uns mit Beat Fehlmann, dem scheidenden Intendanten der Südwestdeutschen Philharmonie, über ganz andere Themen unterhalten: Über Elektroinstallationen etwa, über Weinfeste und Wälder, über den Überlebenskampf lebender KomponistInnen, mangelnde Neugierde und – für einen Orchesterintendanten ungewöhnlich genug – über Musik. Hier der erste Teil unseres zweiteiligen Gespräches.

Den zweiten Teil des Gespräches lesen Sie hier.

Du bist einer der wenigen Komponisten mit einer abgeschlossenen Ausbildung als Elektroinstallateur.
Wie hast Du das herausgefunden?

Durch harte Recherche und brutale Menschenrechtsverletzungen.
Ja, ich habe etwas Richtiges gelernt, und ich schäme mich dessen nicht, im Gegenteil!

Deine musikalische Heimat aber ist der Musikverein?
Ich bin so richtig auf dem Lande aufgewachsen, in Villnachern in der Nähe von Schinznach. Meine Eltern waren nicht sonderlich musikalisch, aber wir hatten einen Onkel, der eine große Schallplattensammlung besaß. Der hat irgendwann auf Revox-Bänder umgestellt und seine Schallplatten meiner Mutter vermacht. Da gab es alles von Barock bis Wagner, keinen Schönberg natürlich, sondern das Kernrepertoire. Ich habe als Fünf- oder Sechsjähriger die Musik über diese Platten kennengelernt. Der Klang von Orchestern hat mich damals fasziniert, auch wenn das natürlich ein anderes Klangverständnis war als heute, das war Karajan und so.

Da wolltest Du selbst mitspielen?
Ich wollte Oboe lernen, aber das war schwierig, weil es vor Ort keinen Lehrer gab, dazu hätte ich nach Zürich fahren müssen. Das waren zwar nur 25 Minuten mit dem Zug, aber da fuhr man bestenfalls einmal im Jahr hin, das war einfach suspekt. Da gab es schon um 16 Uhr einen, der betrunken am Straßenrand hockte, unvorstellbar … Im Dorf begann man damals mit einer kleinen Musikschule für Trompete, Posaune und Klarinette. Klarinette war das andere Instrument, das mir gefiel, und da bin ich dann hängengeblieben. Nach einem Jahr wurde ich in den Musikverein aufgenommen, war dort fünfzig Zentimeter kleiner als der Durchschnitt und fünfzig Jahre jünger, konnte aber besser spielen als viele. So hat sich das dann entwickelt, und ich bin ja auch noch ein paar Zentimeter gewachsen. Das war der ländliche Raum mit seinen Qualitäten und Limitationen, man kannte wirklich jeden im Dorf und wusste, wer gerade was macht, das hatte durchaus seinen Charme.

Du wolltest dann Klarinette studieren, und Deine Eltern haben gesagt, Du sollst erstmal was Vernünftiges lernen?
Ich hätte nach der regulären Schulpflicht noch nicht studieren können, ich brauchte noch ein paar Trainingsjahre. Ich habe meine Lehre als Elektroinstallateur bei einem internationalen Großkonzern, ABB, gemacht und hatte dort die Möglichkeit, nebenher einen Tag in der Woche eine Jungstudentenklasse an der Musikhochschule Zürich zu besuchen. Das war nicht selbstverständlich, man hat es mir quasi als zusätzlichen Tag Schule neben der Berufsschule ermöglicht. Dabei habe ich mich musikalisch kontinuierlich weiterentwickelt.

Hast Du auch mal einen richtigen Schlag abgekriegt, dass Dir die Haare zu Berge standen?
Ja, das gehört einfach dazu. Das Heimtückische dabei sind die inneren Verbrennungen. Wenn man Glück hat, hat man Glück, aber es passiert auch immer wieder, dass jemand Pech hat.

Wenn Du eine Glühbirne wechseln willst …
… schaffe ich das noch selbst. Ich habe damals an Fertigungsstraßen und der Infrastruktur von Bürogebäuden gearbeitet, da gab es noch richtige Hallen mit Turbinen und Transformatoren. Ich bin dank meiner Lehre immer sehr praktisch orientiert. Die duale Ausbildung ist ein Modell, das ich nicht nur in diesem Bereich interessant finde. Ich denke daran oft anlässlich von Stellenbesetzungen. Schreibt man in Deutschland einen Sekretariatsjob im Orchesterbereich aus, bekommt man zu 90 Prozent Bewerbungen von Leuten, die studiert haben, 40 Prozent haben gar promoviert. Aber wenn es darum geht, die Buchhaltung zu machen oder einen Serienbrief zu schreiben, scheitern sie. Da denke ich, es ist ja schön, dass der über Hegel promoviert hat, aber der Vorteil meiner Ausbildung ist etwas sehr Pragmatisches und Zielgerichtetes – auch wenn das Verschwenderische und vermeintlich Nutzlose natürlich ganz wichtig ist im Leben.

Du hast dann ein Klarinettenstudium angeschlossen.
Ich habe auch gleich mit dem Dirigieren angefangen und war in Chicago an der Northwestern University. Nach meiner Rückkehr habe ich dann in Hannover mit Komposition begonnen. Mein Vater hatte eine Firma im Bereich Elektro und hat neben Hausinstallationen Automatisierungsstraßen entwickelt und war stark in der Robotik dabei, hinten der Block aus Stahl rein und vorne kommt dann das fertige Teil heraus. Meine Eltern haben mich auf meinem Weg unterstützt. Die Musikhochschule war für mich erst mal eine fremde Welt. Die anderen kamen zu neunzig Prozent aus Musikerfamilien und bewegten sich mit einer Selbstverständlichkeit in diesem Umfeld, die mir völlig fehlte. Das hat mich angespornt, und ich habe mir alles erarbeitet.

Komponierst Du heute noch?
Grmmmmpf … (es folgen unverständliche Laute)

… alles klar, ich ziehe die Frage zurück.
Mir hat in den letzten Jahren nicht nur die Zeit, sondern vor allem der Freiraum gefehlt. Ich habe eine breite Ausbildung genossen und kenne das Repertoire so gut, dass ich mich jederzeit hinsetzen und irgendetwas produzieren kann.

Also typische Kapellmeistermusik, ich mache jetzt einen auf Wolfgang Rihm und morgen einen auf Helmut Lachenmann …
… ja, das geht. Aber fasziniert hat mich immer dieser Selbstzerfleischungsprozess, bei dem man den ganzen Vormittag auf dem Sofa verbringt, ohne eine Note zu schreiben, aber danach komplett erledigt ist, weil das alles ganz schlimm ist und es nicht weitergeht. Dabei durchlebt man existenzielle Krisen bei der Frage, was die nächste Note wird. Es stellen sich so viele Fragen: Welche Tonhöhe, welche Dynamik, welche Klangfarbe usw. Das klingt lustig, aber das ist die finstere Wirklichkeit, in der ich als Komponist stecke.

Warst Du kompositorisch auch einer von diesen Leuten, für die beim Dreiklang der Faschismus anfängt?
(lachend): Hmmmnnnneeeein, so apodiktisch war ich nie, aber es stellt sich natürlich diese Frage.

Manche amerikanischen Orchester spielen zeitgenössische Musik in ganz normalen Konzerten, allerdings hört sich die oft an wie Leonard Bernstein, 13. Aufguss, vielleicht weniger „West Side Story“ als vielmehr „Chichester Psalms“.
Ich bin durch meine Herkunft und mein Studium sehr geprägt von der deutschen Idee einer radikalen musikalischen Avantgarde und hatte es früher einfacher, solche Musik, wie Du sie gerade beschreibst, zu verurteilen. Inzwischen denke ich manchmal, dass diese KomponistInnen einen Weg gefunden haben, gespielt zu werden und eine Musik zu schreiben, mit der die Leute etwas anfangen können, weil sie sich dabei aufgehoben fühlen. Natürlich klingt das alles am Ende so wie John Williams [Filmmusikkomponist: Der weiße Hai, Indiana Jones, Star Wars], das ist alles banal-tonal. Auf der anderen Seite müssen wir aber zugeben, dass wir seit Schönberg in der europäischen Avantgarde ein immenses tonales Problem haben. Atonalität funktioniert einfach nicht beim Publikum.

Waren 100 Jahre Avantgarde ein Irrläufer?
Es gibt keine Modelle mehr, es gibt keine funktionierenden Strukturen, alles ist offen. Ich bin mir unsicher, was da gerade passiert und in welche Richtung es sich entwickelt. Es gab in der Musikgeschichte schon mehrfach solche radikalen Entwicklungen, etwa mit der ars subtilior oder später mit den extremen Entwicklungen in der Renaissance. Die Minimal Music war vielleicht ein Versuch, einen völlig anderen Zugang zu finden und wieder an etwas deutlich Älteres anzudocken. Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht. Auch der Markt, Stiftungen und andere Financiers verhalten sich natürlich nicht neutral.

Ist das in Frankreich anders?
Das läuft schon anders als in Deutschland. Frankreich ist ein ganz spezielles Phänomen mit seinem Zentralismus, dieser wahnsinnigen Protektion und einer Figur wie Pierre Boulez, der über viele Jahre bestimmt hat, was gut ist und was nicht. Ich bin immer wieder fasziniert, wenn ich in Frankreich in kleinen Städten spazieren gehe und sehe, was im Schaufenster einer Librairie steht. Dort stehen viele philosophische Werke, und ich frage mich dann: Kaufen die Leute das, lesen die etwa diesen Scheiß-Foucault wirklich?

Gibt es auch Versäumnisse bei der Vermittlung Neuer Musik? Auf der einen Seite heißt es, dass niemand ins Konzert kommt, wenn man Neue Musik spielt. Auf der anderen Seite haben die meisten Konzertbesucher noch nie intensiver Neue Musik gehört. Wäre es Aufgabe eines Orchesters, angesichts der öffentlichen Millionen, die es bekommt, zumindest 25 Prozent seiner Zeit Werken aus den letzten 50 Jahren zu widmen?
Diese Verantwortung gibt es.

Warum kommt man ihr nicht nach?
Kommt man ihr wirklich nicht nach?

Es ist durchaus denkbar, dass jemand ein ganzes Abonnentenleben lang ins Konzert geht, ohne einen einzigen Ton von Bernd Alois Zimmermann gehört zu haben. Natürlich gibt es da auch Begrenztheiten des Orchesters …
… leider können wir nicht „Photoptosis“ spielen … Aber ob es 25 Prozent sein müssen …

… nicht in den Kammerkonzerten, sondern in den Orchesterkonzerten …
… also da, wo es richtig wehtut … Wir haben Kompositionsaufträge vergeben, an Isabelle Mundry und Oscar Bianchi, in dieser Spielzeit hatten wir Fabian Müller mit einem 35-minütigen Werk. Wir haben praktisch jedes Jahr eine Uraufführung gespielt, mal richtige Avantgarde, mal gemäßigter. Dabei schlug mir teils offene Feindschaft entgegen, sowohl von Musikern als auch aus dem Publikum. Ich fand es am erschreckendsten, dass die Neugier, die Lust am Entdecken auch bei der Mehrheit der Berufsmusiker einfach nicht vorhanden ist. Das liegt auch an der Ausbildung, in der Neue Musik oft nicht vorkommt. Institutionen, die viel öffentliches Geld bekommen, müssen sich natürlich fragen, was sie mit dieser Ressource tun. Wir sind nun mal in Deutschland, und hier gibt es Komponisten wie Spahlinger & Co. Vielleicht ist das aber auch nur eines dieser Phänomene wie die RAF, die man in hundert Jahren vielleicht als zeitgeschichtlich bedingte exzessive Reaktion auf den Nationalsozialismus begreifen wird.

Was hieß das für Deine Arbeit in Konstanz?
Für mich in Konstanz war klar, dass Neue Musik nicht im Vordergrund stehen kann, wenn ich dieses Orchester wieder stabilisieren will. (Lachend:) Ich musste erreichen, dass Holger Reile nicht wieder auf der Matte steht und die Orchesterschließung ins Spiel bringt, sondern sich andere Schauplätze sucht.

Das wird er gern lesen! Was hält die Zukunft für Dich bereit?
In Ludwigshafen ist die Situation anders als in Konstanz. Das dortige Orchester lebt in drei Welten. Als Landesorchester hat es einen Flächenauftrag, denn Rheinland-Pfalz ist sehr ländlich und zu 60 Prozent oder mehr mit Wald bedeckt. Es gibt viele kleine Städte, die mehrheitlich richtig schöne Säle haben, die einem wehtun, mit einem Publikum, das sich zwei oder drei Mal im Jahr klassische Musik gönnt. Dann gibt es den Standort Ludwigshafen, eine Arbeiterstadt mit 170.000 Einwohnern und einer hohen Migrantenquote, die von sich aus erst mal gar nicht klassikaffin ist. Und dann gibt es die Metropolregion mit Mannheim, Heidelberg, wo ein sehr reges Kulturleben stattfindet mit internationalen Gastspielen und einem sehr aufgeklärten Publikum, das gern mit besonderen Dingen verwöhnt wird. Dieses Orchester muss vermutlich den Spagat schaffen, mit diesen unterschiedlichen Voraussetzungen umzugehen. Einerseits mit einem Publikum …

… sonst ist da ja auch nichts los …
… außer Weinfesten, und die sind zahlreich. Es ist unglaublich, wie die es hinkriegen, von April bis November Weinfeste zu veranstalten. Dann kommt Weihnachten, dann die Fasnacht, und dann geht es schon wieder los mit den Weinfesten, nicht schlecht.

Was wünschst Du Dir für die Zukunft?
Das Zweifeln nicht zu verlernen, so wie in der Neuen Musik, wo man sich nie sicher sein kann, wie es weitergeht. Hohoho! … Jetzt ist aber Schluss!

Gesprächspartner war Harald Borges

(Das große Foto zeigt ein Transparent, das seit Wochen am Eingang zum Konzil flattert.)