Friedensbewegung: Neue Strategien sind gefragt

seemoz-Cover-FriedenEs lohnt immer, sich für den Frieden einzusetzen, sollte man meinen. In diesem Jahr, der 55. Wiederholung der Ostermärsche, gingen hingegen gerade mal ca. 10 000 Teilnehmer  auf die Straße. Der Friedensbewegung scheinen die großen Themen zu fehlen, wie ehedem in den 1960er Jahren während des Vietnam-Kriegs oder Anfang der 1980er Jahre bei der Debatte um den Nato-Doppelbeschluss und der atomaren Aufrüstung.

Der Friedensbewegung scheint es aber auch an führenden Köpfen in Politik und Kultur zu fehlen, an Identifikationsfiguren, die in ganz Europa z.B. auf Aussöhnung setzten (Willy Brandt/Egon Bahr etwa) und nicht  – wie jetzt – die Bundesregierung auf Konfrontation (mit Russland). Zusätzlich herrscht in der friedensbewegten Szene selbst nicht Friede und Eintracht; man ist sich in wichtigen Fragen uneins, z.B. in der an den Kriegsschuldanteilen Deutschlands bei beiden Weltkriegen, in der Haltung Israel gegenüber, es wabert auch verschwörungstheoretisch.

Vielleicht beruht der Schwund auch darauf, dass es schwieriger geworden ist, breiten Protest zu organisieren, weil viele ihre Betroffenheit quasi nebenbei in sozialen Netzwerken loszuwerden versuchen und sich damit im Großen und Ganzen begnügen. Allerdings, der Zustand der Welt (samt etlicher ihrer dominanten Entwicklungsstränge) erlaubt es eigentlich gar nicht, im Ringen um friedliche Verhältnisse, ganz gleich auf welchem Kontinent, innezuhalten oder gar beruhigt aufzustecken. Die Welt ist seit den ersten Ostermärschen nicht friedlicher geworden, auch nicht in und für Deutschland. Hier steigen die Ausgaben für Rüstung und Militarisierung kontinuierlich und die Bundeswehr wandelt sich von einer auf Verteidigung festgelegten Armee unter dem Motto „Mehr Verantwortung zeigen“ zu einer weltweit operierenden Interventionsstreitmacht.

Hunderttausende protestierten

Alles wäre Anlass genug, sich mit der Friedensbewegung dagegen zu stemmen, auch wenn man kaum zur Kenntnis genommen wird oder gar Hohn und Verachtung erntet – eine für friedensbewegte Aktivisten durchgängige Erfahrung. Die ersten bedeutenden pazifistischen Vorkämpfer vor dem Ersten Weltkrieg und während der Weimarer Republik – Bertha von Suttner, Carl von Ossietzky, Ludwig Quidde etwa – galten als politische Außenseiter (trotz Friedensnobelpreis !), wurden von den verschiedensten politischen Seiten angefeindet. Auch die ca. 100 Teilnehmer am ersten Friedensmarsch in Westdeutschland im Jahre 1960, die ihn gewissermaßen aus Großbritannien aufs Festland übertragen hatten, galten in West und Ost, bei Links und Rechts als „naive Sektierer“ und „idealistische Spinner“ (Andreas Buro), als sie gegen „atomare Kampfmittel jeder Art und jeder Nation“ protestierten, was sie indes nicht verdross.

Mit den Jahren steigerte sich der Zulauf. 1968 gab es einen ersten Höhepunkt, als sich vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges und der aktiven Mitwirkung von Teilen der Studentenbewegung

300 000 Menschen in der „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“ engagierten. Die Niederschlagung des Prager Frühlings spaltete wohl erst einmal die Bewegung (samt Führung); in den Anfängen der 1980er Jahre erfolgte jedoch ein neuer Aufschwung. Hunderttausende demonstrierten in Westdeutschland erneut, diesmal gezielt gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen. Der Zulauf erfolgte aus ganz unterschiedlichen Lagern und formierte sich nicht nur zu den Osterfeiertagen. 1981, im Herbst, trafen sich rund 350 000 Menschen verschiedenster politischer und weltanschaulicher Couleur im Bonner Hofgarten, zwei Jahre später (am 22.Oktober 1983) noch einmal daselbst etwa 500 000 unter dem Motto „Petting statt Pershing“, bundesweit demonstrierten an die 1,3 Millionen gegen den atomaren Rüstungswettlauf, einer als unmittelbar und real empfundenen Bedrohung Mitteleuropas.

Friedensbewegte Erschöpfung?

Dazwischen und danach gab es immer wieder Flauten. Es darf vermutet werden, dass es „kollektive Betroffenheit, nicht Ausdruck eines allgemeinen Antimilitarismus“ (Pascal Beucker) war, was die Leute auf die Straßen trieb. Das wird durch die vergleichsweise niederschwelligen Reaktionen auf kriegerische Akte (selbst unter mehr oder weniger direkter deutscher Beteiligung), wie dem völkerrechtswidrig herbeigeführten Jugoslawienkrieg, die Golfkriege von 1991 und 2003 als auch den Krieg in Afghanistan, wiederholt belegt. Die Friedensbewegung, wie sie einstmals virulent war, gibt es nicht mehr; sie ist zwar (noch) nicht gestorben, aber sie existiert seit Jahren auf der Bühne politisch relevanter Akteure lediglich am Rande – und das , wie gesagt, obwohl es Gründe im Lande (und in Europa, ja weltweit) genug gibt, kraftvoll und mit Führungsanspruch aufzutreten.

Die Macher des hier vorgestellten Buches scheinen das ebenso einzuschätzen und wollen der allgemeinen, weitverbreiteten friedensbewegten Erschöpfung etwas entgegensetzen, das sowohl die historischen Hintergründe bedenkt, eine weitgespannte Bestandsaufnahme der den Frieden und dessen Zukunft überall gefährdenden Fakten, Zustände und Tendenzen beschreibt sowie – nicht zuletzt – strategische Überlegungen und Angebote für das Fortbestehen und ein Wiedererstarken der Friedensbewegung anbietet. „Kriege im 21.Jahrhundert: Neue Herausforderungen für die Friedensbewegung“ ist ein Sammelband von Beiträgen, die selber Gegenstand einer Antikriegskonferenz 2014 in Berlin waren, die Texte kommen also aus einer bereits gegebenen Beschäftigung mit der Friedensproblematik und sind schon deshalb nicht bloße kontemplative Reflexion.

Das knapp 380 Seiten umfassende Buch beschreibt und analysiert  seine zentrale Thematik als „neue“ Kriege im 21.Jahrhundert auf drei Ebenen: eine der (Kennzeichnung und Illustrierung der schon stattfindenden) „Militarisierung“, eine zweite der „Mobilmachung“ (der Gesellschaft zur permanenten Kriegsbereitschaft und deren Plausibilisierung) sowie eine Ebene, auf der (unter Bezug auf Lehren aus der deutschen Geschichte) „Einspruch“ erhoben wird gegen Militarisierung, imperiale Strategien (des Kapitals) und für Perspektiven der Friedensbewegung plädiert, wenn sie denn bereit ist, sich weiterzuentwickeln.

Der schleichende Prozess der Militarisierung

Zu den Beiträgen im Einzelnen: Gleich eingangs werden im Abschnitt „Militarisierung“ detailliert und kenntnisreich bereits bestehende oder um sich greifende Gefährdungen der Demokratie beschrieben (infolge einer ideologischen Aufrüstung zwecks „Einübung des hegemonialen Habitus“/Franz Hamburger). Es werden Kriegs-Videospiele und Kampfsimulatoren vorgestellt, die ihres politisch völlig konträr auslegbaren Charakters wegen genauestens betrachtet werden müssen, auch von der Friedensbewegung (Michael Schulze von Glaser). Es wird die schleichende Unterwanderung von Studium, Forschung und Lehre durch Aufträge der waffenproduzierenden Industrie dargelegt – und wie sich Lehrende und Lernende an ihren Hochschulen (am Beispiel Kassel) dagegen wehren können (Claudia Holzner/Julian Firges). Aus der „Sicht der Informatik“ wird die verschleierte, unheilvolle Vermischung von militärischer und ziviler Sicherheit aufgedeckt (wie NSA-Skandal, Cyberattacken, Drohnen etc. belegen/Hans-Jörg Kreowski). Der „Drohnenkrieg“ selber ist Gegenstand bei Volker Eick (in Abschnitt 2 „Mobilmachung“), der zugleich die Verwandlung des ehedem vor Ort unmittelbar kämpfenden Soldaten in einen sogenannten Chair-force-soldier erzeugt. Rolf Gössner  analysiert den Sicherheitskrieg der Geheimdienste und die damit verbundene Militarisierung der Inneren Sicherheit, aber auch der Sicherung präventiver Vormacht und Herrschaft zum Zwecke internationaler wirtschaftlicher Einflussnahme und der Umsetzung geostrategischer Interessen. Er diagnostiziert einen „globalen Informationskrieg der Geheimdienste“.

Geostrategische Interessen

Der Abschnitt „Mobilmachung“ greift die soziale Kriegsmobilmachung auf unter Verweis auf Jugendarbeitslosigkeit (in Europa) und die Praktiken von Frontex zur Absicherung der Festung Europa (Peter Herrmann). Die „Medien als Kriegspartei“ und ihre aktive Beteiligung an der „Verschwörung gegen den Frieden“ thematisiert Helmuth Riewe, was nicht zuletzt auf eine Ersetzung eines öffentlich sich verantwortlich fühlenden Journalismus durch ein privatwirtschaftliches System neoliberal-kommerziell agierender Agenturen zurückgeht. Eine zentrale Rolle in diesem Abschnitt nimmt der Beitrag von Sönke Hundt zu „Geopolitik versus Geoökonomie“ ein. Er seziert sowohl das ohnehin konfliktuöse Verhältnis von Belieferung profitabler Absatzmärkte mit Waren und deren politisch-ideologisch bedingter Ausgrenzung in Spannungsfällen (derzeit z.B. den Handel mit Russland betreffend). Er deckt auch die Unterwerfung deutscher/EU-Wirtschaftsinteressen unter die geostrategischen Interessen der USA (einschließlich der Rolle von Rating-Agenturen dabei) auf, exemplarisch am Ukraine-Konflikt.

Krieg oder Weltrevolution?

Der dritte Abschnitt „Einspruch“ enthält Beiträge zur Frage, wie wohl Friedenslösungen aussehen könnten, wenn sie sich auf nationale antimilitaristische Potentiale stützen als auch im internationalistischen Verbund. Jörg Wollenberg beweist in „Flammenrausch des Vaterlandes“, dass so gut wie alle gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland – national-konservatives Bürgertum, Arbeiterbewegung, Intellektuelle – durchaus nicht wie „Schlafwandler“ in die Weltkriege getaumelt sind, sondern voller Kriegsbegeisterung (Erster Weltkrieg) marschierten und sich aufgrund unzulänglicher Analysen der Lage vor und nach 1933 allesamt an beiden Katastrophen mitschuldig gemacht haben. Selbst nach 1945 erlitt die Arbeiterbewegung samt ihrer politischen Protagonisten eine weitere Niederlage, fehlten ernstzunehmende Deutungen, die komplexen Ereignisse zu durchschauen und gravierend mitzugestalten. Fast trotzig-resignierend resümiert Wollenberg, dass die Parole bleibe: Krieg oder Weltrevolution, weil man sich schon wieder am Rande eines globalen Krieges befinde.

Die Politik, jedenfalls aus dem  linken Lager (Ulla Jelpke), formuliert hierzu (allzu umstandslos, will es scheinen) eine doppelte Aufgabe für die Friedensbewegung, nämlich länger ausharrende Kampagnen zur Friedensbewahrung zu starten und vor allem „Klarheit in den Köpfen“ über die schleichende Militarisierung zu schaffen. Für bestehende kriegerische Herde (Ost-Ukraine) biete sich die OSZE als geeigneter organisatorischer Rahmen an (Otto Jäckel).

Wie geht es weiter?

Was sich insgesamt an Perspektiven für die Friedensbewegung argumentativ herleiten lässt, unterbreitet Günter Rexilius in seinem Beitrag „Gegen den Terror der Profitmacht“. Schon der Titel deutet auf eine richtige und notwendige Erweiterung der Anforderungen an die Friedensbewegung hin, nämlich auf eine konsequent antikoloniale und antikapitalistische Denk- und Handlungsorientierung, die vor dem Hintergrund einer Besinnung auf die historisch gemachten kollektiven Terrorerfahrungen der immer noch „Verdammten dieser Erde“ (Fanon) im Zuge der anhaltenden weltweiten profitorientierten Eroberung durch das Kapital (aktuell als „Great Game“ bezeichnet) neue Impulse zu setzen vermag. Dann sei auch vor Ort das Zusammenstehen und -gehen der zahllosen „Widerstandsnester“ – vom Eine-Welt-Laden bis zur zivilgesellschaftlich organisierten Flüchtlingshilfe – sinnstiftend machbar und langfristig potent genug, die Grundlagen eines Systems zu erschüttern, das sich nach menschlichen Maßstäben überflüssig gemacht hat.

Konsequent greift diesen Zusammenhang von kapitalistischer Ökonomie und kriegerischer Gefährdung der Welt der letzte Beitrag von Rudolph Bauer auf. Unter Bezug auf von Marx vorgelegte Analysen des Kapitals entschlüsselt er eine „Verkettung von Krieg, Terror, Katastrophen“ und Kapital als ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen „Verblendungszusammenhang“. Er geht aber über die herkömmliche marxistische Argumentation hinaus (besonders was die Rolle des Proletariats als „revolutionäres Subjekt“ betrifft), erweitert sie um die Einbeziehung von Umwelt und Natur in die strategischen Überlegungen, dem Kapital die Rolle als „originärem Nährboden“ für Kriege und totalitäre Entwicklungen sukzessive zu entreißen – bei aller Komplexität fast optimistisch anmutende Ausführungen.

Fazit

Die Beiträge sind allesamt gut lesbar, nicht unbedingt von gleicher Dignität (wenn sie z.B. ausgesprochen kurz sind), ergeben aber zusammen eine Lektüre, die unbedingt empfohlen werden kann, sowohl für Friedensaktivisten als auch für lediglich „allgemein politisch Interessierte“.

Verlag, Herausgeber und Autoren haben mit diesem ersten Band einer „Friedenspolitischen Reihe“ für einen notwendig zu führenden Diskurs über zentrale politische Fragen einen wichtigen, sehr empfehlenswerten Beitrag geliefert. Eine „wiederbelebte Friedensbewegung“ (Bauer) sollte nicht dem massenhaften Zulauf einer „alten“ nachtrauern, er ist vergleichbar nicht wieder herzustellen (Elmau belegte es erst kürzlich erneut). Sie sollte auf die Anforderungen der jetzigen Zeit qualitativ reagieren mit kühler Analyse, rationalem Kalkül und realistischen Vorschlägen, wie der  Bedrohung des Friedens – und damit der Demokratie in Deutschland – begegnet werden soll und kann. Das vorliegende Buch kann sich durchaus als Beitrag hierfür verstehen.

„Kriege im 21. Jahrhundert. Neue Herausforderungen der Friedensbewegung“. Herausgeber Rudolph Bauer, Sonnenberg Verlag 2015, Friedenspolitische Reihe, Band 1.

Christian Glaß[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]