„Friedenshetzer“ und Gegner des „Schwertglaubens“

Die Haltung christlicher Theologen und Pfarrer in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts ist zumeist wenig rühmlich: Sie haben Waffen gesegnet , zum Krieg aufgerufen und waren tatkräftige Unterstützer von Militarismus und Nationalismus. Alle? Nicht alle, denn es gab einige Ausnahmen. Vor 100 Jahren starb etwa Otto Umfrid (1857–1920), ein Pazifist aus den Reihen der evangelischen Kirche. Der weitgehend vergessene Stuttgarter Stadtpfarrer wurde nicht zuletzt von seiner Kirche angefeindet.

Ein Gastbeitrag von Helmut Donat

Teil 1

Zwei Weltkriege sind von deutschem Boden ausgegangen. Und doch gibt es auch in der jüngeren deutschen Geschichte Gruppierungen und Personen, die dem blutigen Wahnsinn die Gefolgschaft versagt haben. Dies ist weder eine erstaunliche noch eine zufällige Tatsache. Wo große Teile eines Volkes der Unmoral verfallen, dort wachsen Charaktere heran, die sich der militaristischen Verseuchung und säbelrasselnden Knechtseligkeit entziehen. Im Meer der geistigen und sittlichen Verrohung bilden sie gleichsam Inseln, weit davon entfernt, bloße Stätten der Zuflucht zu sein, bieten sie doch den Entwurf für ein friedfertiges Zusammenleben, der in unüberwindbarem Gegensatz zu der Auffassung steht, dass die Gewalt eine überragende Triebfeder der Geschichte darstelle und der rüstungsschwangere Wille zur Wehrbereitschaft ein Garant des Friedens sei.

Eine Stimme für den Frieden

Die bedeutendsten Persönlichkeiten, die im frühen 20. Jahrhundert ihre Stimme gegen den Rückfall in die Barbarei erhoben, kamen aus den Reihen der Friedensbewegung. Sie war es vor allem, die, dem Erbe der alten deutschen Kultur und den fortschrittlichen Errungenschaften des europäischen Bürgertums aufs engste verbunden, den Kriegsplanern, Schreibtischtätern und Stimmungsmachern entgegentrat. Kein evangelischer Theologe hat sich im preußisch-deutschen Kaiserreich so tatkräftig für den Erhalt und Ausbau des Friedens eingesetzt wie Otto Umfrid. Und zweifellos ist Ludwig Quidde, 1927 Friedens-Nobelpreisträger, zuzustimmen, der über ihn schrieb, dass er vor 1914 „mehr als irgendein anderer Reichsdeutscher für die Friedenssache gewirkt“ hat. Ebenso zutreffend bemerkte der Völkerrechtslehrer Walther Schücking, Umfrid sei einer der wenigen gewesen, „die in einer äußerlich blühenden und innerlich arm gewordenen Zeit die Flamme des Rechtsgedankens vor dem Erlöschen bewahrt haben“.

Otto Umfrid, um 1910.

Am 2. Mai 1857 in der württembergischen Stadt Nürtingen als Sohn eines Rechtsanwalts geboren, entwickelte Umfrid bereits in der Kindheit einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der sich von der übertriebenen Strenge des Vaters wohltuend abhob. Nach dem Besuch des Gymnasiums führt ihn das theologische Studium ins „Stift“ nach Tübingen. 1879 besteht er die erste, 1884 die zweite Dienstprüfung. Der Dekan bescheinigt ihm „ungewöhnlichen Amtseifer“, ein die „Herzen gewinnendes Wesen“ und eine „gründliche theologische wie philosophische Bildung“. Nach dem Vikariat übernimmt Umfrid zunächst das Pfarramt in Peterzell im Schwarzwald. Seit 1888 verheiratet, entstammen seiner Ehe vier Kinder, ein Sohn und drei Töchter. 1890 wird er Stadtpfarrer in Stuttgart. Seine Predigten erschüttern die Zuhörer. Soziale Missstände gibt er dem grellen Licht alter Wahrheiten preis. „Zion muss durch Recht erlöset werden und Jerusalem durch Gerechtigkeit.“ Als er zu dem Wort des Propheten Jesaja ausführt, der Arbeiter habe ein Recht auf Arbeit, Ruhe, ausreichenden Wohnraum und entsprechenden Lohn, wird ihm vorgeworfen, Unmut zu erregen. Umfrids Antwort: „Unser Herr Christus hat auch Ärgernis gegeben“ und uns beauftragt, „dass wir sollen nachfolgen seinen Fußstapfen.“

Christlich-soziale Überzeugungen

Vom gleichen Holz ist Umfrids „Arbeiter-Evangelium“, eine 1893 veröffentlichte Schrift, die, programmatische Gedanken zur Arbeiterfrage enthaltend, seine christlich-soziale Grundhaltung unterstreicht. Von tätiger Nächstenliebe zeugen seine Mitarbeit im Stuttgarter „Evangelischen Arbeiterverein“ und seine Wirksamkeit als Schriftführer im „Verein für Notstandsfälle auf dem Lande“, die in mehr als 13.000 Fällen dazu beigetragen hat, das Los der Betroffenen zu lindern. Seine religiöse Stellung und die Beschäftigung mit dem sozialen Elend, sein „Tatchristentum“ und das Empfinden für die ausgebeuteten Schichten des Volkes führt ihn zur pazifistischen und internationalen Arbeit. 1894 wird er Mitglied der Stuttgarter Ortsgruppe des von Franz Wirth im Jahre 1888 gegründeten „Frankfurter Friedensvereins“. Umfrid findet zehn Personen vor, acht Männer und zwei Frauen, die sich in einem Klublokal über den Weltfrieden unterhalten. „Wenn wir etwas erreichen wollen“, sagt er den Anwesenden, „so müssen wir in die Öffentlichkeit hinaus und Volksversammlungen abhalten.“ Der Vorschlag findet Beifall. Umfrid wird zum Pionier der bislang im süddeutschen Raum schwach verankerten Friedensbewegung. Er predigt, nachdem er allsonntäglich bereits zwei bis drei Gottesdienste hinter sich hat, für den Frieden, hält außerhalb Stuttgarts bis zu 24 Vorträge im Jahr und gründet etwa zwanzig Ortsgruppen der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG).

Neben seiner Stabführung als Pastor entwickelt Umfrid eine umfangreiche publizistische Tätigkeit. Von 1894 bis 1914 zeichnet er verantwortlich für das Familienblatt „Grüß Gott“. Zunehmend stellt er seine schriftstellerische Begabung in den Dienst der Friedensbewegung. Von 1899 bis 1908 gibt er den „Friedens-Boten“ heraus, einen pazifistischen Volkskalender, der die Gedanken der Friedensgesellschaft in jedes Haus tragen will und der nicht müde wird, dem Leser die Schrecken eines künftigen Krieges vor Augen zu führen, von dem Experten sagen, dass er apokalyptische Dimensionen annehmen wird. Weniger volkstümlich, aber gleichwohl von hohem Anspruch und an das Rechtsgefühl der Massen appellierend, gestaltet sich seine Tätigkeit als Herausgeber der „Friedensblätter“ (1899-1910) und der Zeitschrift „Der Völkerfriede“ (1910-1919), den Organen der DFG. Umfrid selbst verfasst die meisten Beiträge. Dem Suttnerschen Organ „Die Waffen nieder!“ leiht er ebenso seine Stimme wie später der „Friedens-Warte“ von Alfred Hermannn Fried, den „Neuen Wegen“ von Leonard Ragaz und der ökumenisch-sozial orientierten „Eiche“ Friedrich Siegmund-Schultzes. Des Weiteren veröffentlicht er in den Jahren von 1901 bis 1913 etliche Bücher und mehr als 400 Aufsätze in Tageszeitungen und politischen Zeitschriften.

Prophet im eigenen Land

Im Jahre 1900 trägt die DFG dem „Propheten des Friedens“ (H. Wehberg) Rechnung und verlegt ihre Geschäftsstelle von Berlin nach Stuttgart. Umfrid wird zum Vizepräsidenten der DFG gewählt. Seine nun über Württemberg hinausreichende Rednertätigkeit macht ihn in Deutschland bekannt. Auf den deutschen Friedenskongressen in Wiesbaden, Jena und Kaiserslautern hat er leitende Positionen inne. Die Teilnahme an den Weltfriedenskongressen in Rouen (1904), München (1907), London (1908) und Stockholm (1910) trägt Umfrid, dessen unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen beeindruckt, hohes Ansehen in der internationalen Friedensbewegung ein.

Umfrids soziales und politisch-pazifistisches Engagement beruht auf einer christlich-ethischen Gesinnung, die ihre prägende Kraft aus der Ideenwelt Karl Christian Plancks schöpfte. Wie Planck ist Umfrid, der das Gedankengut des schwäbischen Philosophen mit dem Buch „Wandlungen deutschen Denkens und Wollens“ (1917) in eine neue Zeit der Republik hinüberzuretten sucht, nicht geneigt, die bereits vom Urchristentum als gegeben hingenommene Staatsordnung anzuerkennen. Vielmehr sieht er es als Aufgabe der Menschen an, eben gerade die Staatsverfassung im „christlichen Sinne“ umzugestalten. Weder Macht und Gewalt noch Blut und Eisen hätten vor Recht und Frieden zu stehen. Dem widerspreche das Christentum. Dieses habe den Auftrag, das Reich Gottes, nicht das Wahngebilde machtlüsterner Potentaten und die „Realpolitik“ willfähriger Handlanger zu verwirklichen. Im Unterschied zu dem nationalsozialen Pfarrer Friedrich Naumann betrachtet Umfrid die Nation nicht als höchstes Gut der Menschheit. Vielmehr gelte es, „über diese spröde Form hinauszustreben und nach einer Einigung der Völker, einem Völkerbund“ (1900). Ebenso widerspricht er Naumanns Verlangen, „um Luft zu kriegen, müsse das deutsche Volk auf Kosten Russlands oder Englands so ein bisschen Welteroberungspolitik betreiben“.

Sozial und international

Umfrid zählt zu den wenigen Deutschen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg begriffen haben, dass von einer Lösung der sozialen Frage erst gesprochen werden kann, wenn zuvor die internationale Frage gelöst ist. Der Krieg aller gegen alle in Gestalt eines skrupellosen Konkurrenzkampfes verhindere, dass eine sich von Recht und Moral geleitete Außenpolitik zur Geltung bringen lasse. Der „innere Friede“ lasse sich nicht erreichen, solange in den Beziehungen der Staaten und Völker der Glaube an die Allmacht des Schwertes vorherrsche. Diese Einsichten bewahren Umfrid davor, von der bloßen Einrichtung internationaler Schiedsgerichte allzu viel zu erwarten. Die Schwäche und Außenseiterposition des organisierten Pazifismus erkennend, gibt er sich nicht der Illusion hin, der Friede ließe sich gleichsam über Nacht herstellen.

Bismarck als Exponent des Militarismus. Karikatur aus dem Süddeutschen Postillon.

Er will „über die rein ethisch-naturrechtliche Fundierung der Friedensidee hinauskommen und ein positives Programm aufstellen“. So legt er zu intensiv diskutierten politischen und ökonomischen Fragestellungen wie die Abrüstung der Staaten, den Freihandel als Wirtschaftssystem und die Gründung der Exekutivmacht eines Völkerbundes Abhandlungen vor, die Walther Schücking und Hans Wehberg auf ihrem Weg zu einer pazifistischen Völkerrechtslehre nachhaltig beeinflusst haben.

Besonderen Stellenwert räumt Umfrid dem Kampf gegen jene unheilvolle Trennung von Moral und Politik ein, die infolge der Bismarckschen Reichsgründung das deutsche Volk ergriffen hat und die bis heute nicht vollständig überwunden ist. Mit seinem „Anti-Treitschke“ (1904) – eine der wertvollsten Schriften aus der Feder Umfrids, die sich gegen Heinrich Treitschke, einen der einflussreichsten deutschen Professoren der damaligen Zeit – widerlegt er die militärfromme Ansicht, „dass der Staat Selbstzweck sei und als solcher gegen die Forderung der Einführung in eine höhere Ordnung sich spröd ablehnend verhalten müsse“. Eine derartige Betrachtung des Staates beinhalte notwendig „die Sanktionierung des Gewaltsystems und des Kriegs“ und stehe in „Widerspruch gegen die Aufrichtung einer weltumspannenden Ordnung“. Zugleich weist Umfrid die falsche Behauptung zurück, die Politik müsse von den Gesetzen des Egoismus geleitet werden. Die Moral sei auch auf den Staat anzuwenden. Seine Aufgabe bestehe darin, „der Menschheit, dem Reich Gottes zu dienen und das Recht auf Erden aufzurichten“.

Der ewige Friede

Eine nicht minder geharnischte Absage an den preußisch-neudeutschen Militarismus erteilt Umfrid in seinem „Anti-Stengel“ dem Rechts- und Staatswissenschaftler Karl Freiherr von Stengel, Professor für Kirchen- und Staatsrecht an der Universität München. Er hat sich in seinem Büchlein „Der ewige Friede“ über die Friedensbewegung lustig gemacht und den Krieg „als ein Kulturideal und als ein religiöses Gebot“ verherrlicht. Als Stengel deshalb zum zweiten deutschen Delegierten der Haager Friedenskonferenz von 1899 ernannt wird, stellt Umfrid mit seiner Kritik der Auffassungen Stengels zugleich jene Grundlagen der Außenpolitik des Kaiserreichs in Frage, die in erheblichem Maße zum Scheitern der Haager Friedenskonferenzen beigetragen haben.

Es bleibt nicht aus, dass sich die Gegner der Friedensbewegung mit Umfrid beschäftigen: Ein evangelischer Theologe, der „in Deutschland den Kampf gegen die Verherrlichung des Machtgedankens mutig aufnahm“ (Wehberg), sich nicht zu sagen scheut, dass „in Bismarck der einseitig nationale Gedanke aufs Mächtigste verkörpert war“, der dem Reichskanzler und den Generälen vorwirft, sich im Privatleben auf Christus und in der Politik auf das Schwert zu berufen – das grenzte an Ketzerei. Ein Amtsgenosse, Verfechter des Bündnisses von Thron und Altar, nennt Umfrid ehrenvoll einen „Friedenshetzer“. Und neben Bertha von Suttner wird er zum meistgehassten „Friedensfreund“ einer Gesellschaft, die, wenn es um Krieg und Frieden geht, kaum eine Taktlosigkeit scheut. Als Umfrid in der „Friedens-Warte“ den Artikel „Los von Bismarck!“ veröffentlicht, ergießt sich über ihn eine Flut von Schmähungen. Umfrid hat derlei Anfeindungen stets gelassen hingenommen. „Doch“ – so berichtet seine Tochter – „war natürlich die aufreibende Wirkung solcher sich oft wiederholender Vorfälle auf seinen schwachen Körper und seine überzarte Seele nicht zu unterschätzen, und nicht nur einmal ist er in der langen undankbaren Kampfarbeit am Zusammenbruch gewesen.“

Helmut Donat (Bilder: Die meisten Bilder stammen aus: Wolfram Wette [Hrsg.]: Ernstfall Frieden – Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914, Bremen 2016.)


Weitere Literatur:
– Christof Mauch/Tobias Brenner: Für eine Welt ohne Krieg: Otto Umfrid und die Anfänge der Friedensbewegung. Tübingen 1987 [antiquarisch erhältlich].
– Eduard Bernstein/Otto Umfrid: Armenien, die Türkei und die Pflichten Europas. Bremen 2005.