„Friedenshetzer“ und Gegner des „Schwertglaubens“ – Teil II
Die Haltung christlicher Theologen und Pfarrer in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts ist zumeist wenig rühmlich: Sie haben Waffen gesegnet , zum Krieg aufgerufen und waren tatkräftige Unterstützer von Militarismus und Nationalismus. Alle? Nicht alle, denn es gab einige Ausnahmen. Vor 100 Jahren starb etwa Otto Umfrid (1857-1920), ein Pazifist in den Reihen der evangelischen Kirche. Der weitgehend vergessene Stuttgarter Stadtpfarrer wurde nicht zuletzt von seiner Kirche angefeindet.
Ein Gastbeitrag von Helmut Donat
Teil 2 – Teil 1 finden Sie hier.
Als besonders schmerzhaft empfindet es Umfrid, dass er von kirchlichen Kreisen kaum unterstützt wird, obwohl es nach seiner Auffassung die Pflicht der offiziellen Kirche gewesen wäre, die Friedensbewegung von Amts wegen zu fördern. Nicht einmal seine oft wiederholten Eingaben an die Konsistorien um Einführung eines „Friedenssonntags“ finden Gehör. Die Resonanz der Friedensbewegung in den protestantischen Kirchen bleibt gering, auch nachdem ein von Umfrid 1907 verfasster und von Martin Rade und Lic. Weber mitunterzeichneter Aufruf bewirkt, dass etwa hundert protestantische Geistliche der DFG beitreten. Allzu sehr ist Umfrid dem späteren Verständnis der Kirche von der Friedensbotschaft des Evangeliums vorausgeeilt.
Weitblickend verdeutlicht er 1913 in einem Aufruf: „Aber die Tatsachen zeigen, dass, da alle Kulturstaaten das Gleiche tun, die Kriegsgefahr so nicht vermindert wird, weil gerade die immer drückendere Last des bewaffneten Friedens, verschärft durch Hass und Misstrauen der Völker untereinander, zur blutigen Entscheidung drängen kann, die wiederum nicht das Ende, sondern den Anfang erneuten Wettrüstens bedeuten würde.“
Erste Massaker an Armeniern
Für Umfrid ist es „selbstverständlich, dass jedes echte Christentum aufs Schärfste gegen den Brudermord, wie er im Krieg ausgeübt zu werden pflegt, protestieren müsse, und so suchte ich wenigstens meiner Gemeinde etwas von dem Abscheu gegen die Menschenschlächtereien, der mich selbst beseelte, beizubringen in der Hoffnung, dass später einmal daraus eine Friedenssaat aufgehen werde.“ In diesem Sinne ergreift er insbesondere für die verfolgten und massakrierten Armenier Partei und klärt seine Gemeinde über die grausamen Geschehnisse der Jahre 1895/96 auf. Im September 1896 hält er auch in der Stuttgarter Ortsgruppe der DFG einen Vortrag über „Die Christenverfolgung in Armenien“, in dem er die Metzeleien und Scheußlichkeiten bei den Blutbädern von Kaisarije, Siva, Urfa und anderen unglückseligen Stätten vor Augen führte. Ohne Grund „wurden 85.000 Menschen erschlagen, ca. 2500 Städte und Dörfer, über 100.000 Christen zwangsweise zum Islam bekehrt und 500.000 dem Hunger preisgegeben.“
Wie Eduard Bernstein, der prominente Sozialdemokrat, in seiner Berliner Rede vom 26. Juni 1902 sieht Umfrid deutlich, dass die Armenier und die anderen Christen im Osmanischen Reich weiter bedroht und ohne Hilfe von außen verloren sind. Die Stuttgarter DFG-Ortsgruppe beschließt eine von ihm verfasste und empfohlene Resolution, die auf eine humanitäre Intervention der Großmächte der Türkei hinausläuft und sich für die Zerschlagung des Osmanischen Reichs zugunsten der von ihm unterdrückten Völker ausspricht. Damit hatte Umfrid den Kern des Problems wie kaum ein anderer vor und nach ihm erfasst. Und der Ablauf der Geschichte sollte ihm, den Pazifisten, der sich aus humanitären Gründen für eine militärische Intervention einsetzt, letzten Endes Recht geben.
Insbesondere fragt er danach, was die europäischen Mächte und die deutsche Regierung getan haben, um die Massaker zu verhindern. Die Antwort darauf fällt kläglich aus. Wo man auch hinschaut, erweisen sich Untätigkeit, Gleichgültigkeit, Ausflüchte und die Behauptung nationaler, ökonomischer und politischer Interessen als Begleitumstände und Hilfsmittel der Verbrechen. Nirgends ist ein beherztes Engagement oder Eingreifen zu erkennen, das die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens über die nationalen Belange eines Staates stellte.
Rücksichtsloser Staatsegoismus
Das gilt aus der Sicht Umfrids auch und gerade für die deutsche Politik. Schon damals zeigen sich die Beteiligten bereit, Massaker an schutzlosen Minderheiten und die Ausrottung eines Teils dieser Minderheit hinzunehmen, herunterzuspielen und zu verschweigen bzw. sich vor einer klaren Stellungnahme zu drücken, weil die Verbrechen von einer Regierung angeordnet worden sind, mit der man in freundschaftlichen Beziehungen steht. „Von diesem Standpunkt aus“, so Umfrid 1897, „betrachten wir die auswärtige deutsche Politik der vergangenen Jahrzehnte in der Hauptsache als eine Politik des rücksichtslosen Staatsegoismus, dessen Konsequenz schließlich nur der Krieg aller gegen alle sein kann.“ Anders ausgedrückt: die deutsche Mitverantwortung an dem Völkermord an den Armeniern beginnt nicht erst während des Ersten Weltkrieges, als die raffiniert ausgedachte grausame Vernichtung eines Volkes von 1 ½ Millionen Menschen mit dem Zeitpunkt der stärksten deutschen Macht in der Türkei zusammenfiel, sondern bereits viele Jahre vorher. Obwohl Deutschland – wie die anderen europäischen Großmächte – für die Sicherheit der Armenier mitverantwortlich war, ließ es die Opfer im Stich, schonte die Täter oder stand ihnen sogar zur Seite.
Dieser Kontinuität entspricht, dass Politiker in der Bundesrepublik bis in die jüngste Zeit nicht bereit oder fähig sind, mit dieser Kontinuität diplomatischer Rücksichtnahme, die letztlich den Tätern zugutekommt, zu brechen. Wie sonst kann man sich das beschämende Herumlavieren erklären, dass deutsche Politiker im Zusammenhang mit der Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern an den Tag gelegt haben? Zwar hat der Bundestag am 2. Juni 2016 mit einer Gegenstimme und einer Enthaltung den Resolutionsentwurf „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916“ verabschiedet, doch blieben die Plätze der Bundeskanzlerin, des Vizekanzlers und des Außenmisters während der Debatte demonstrativ leer. Sie hatten Wichtigeres zu tun, schlugen sich aus Rücksicht auf die Türkei in die Büsche und handelten damit nicht viel besser als frühere deutsche Regierungen. Kein Parlamentarier, sieht man von einem kurzen Hinweis Gregor Gysis ab, protestierte dagegen. Otto Umfrid und auch Eduard Bernstein hätten dazu gewiss nicht geschwiegen.
In der „Dunkelkammer“
Im Jahre 1909 verbannt ihn eine tückische Augenkrankheit, wie er es selbst ausdrückt, in den „internationalen Erdenwinkel seiner Dunkelkammer“. Er ist gezwungen, sich mehr und mehr von der Propagandatätigkeit zurückzuziehen. Schließlich muss er, inzwischen völlig erblindet, im Herbst 1913 sein Pfarramt aufgeben.
Ungleich größeren Einfluss auf die öffentliche Meinung als die Pazifisten erlangen die seit 1900 im „Kyffhäuserbund“ zusammengeschlossenen Kriegervereine – einer von AfDlern wie Gauland, Höcke und Kalbitz hochgehaltenen Tradition. Die gesinnungsmilitaristische Agitation der „Kyffhäuser“ fällt auf fruchtbaren Boden. Im Jahre 1913 verfügt der Bund über fast drei Millionen Mitglieder. Ebenso scharf bekämpft der im Januar 1912 von Generalmajor August Keim gegründete „Deutsche Wehrverein“, dem schon bald nahezu 100.000 Einzelmitglieder und fast 500.000 körperschaftliche Mitglieder angehörten, die Friedensgesellschaft, obwohl es ihr bis 1914 lediglich gelungen ist, etwa 10.000 Personen für die Friedensidee zu begeistern. In seiner im Frühjahr 1914 verbreiteten Broschüre „Die Friedensbewegung und ihre Gefahren für das deutsche Volk“ wendet sich Keim gegen den „geistlichen Antimilitarismus“ und gegen die „Friedensfreunde als weltfremde Doktrinäre“, die eine „Staatsgefährdung“ darstellten, weil sie „verweichlichend“ auf das Volk und die Wehrkraft einwirkten. Dem Machwerk Keims tritt die DFG mit der Schrift „Der Wehrverein – Eine Gefahr für das deutsche Volk“ entgegen, und Umfrid, der auch für die Herausgabe verantwortlich zeichnete, schreibt den Kriegsbarden ins Stammbuch, „dass die Staatsgefährlichkeit nicht auf der Seite derer liegt, die dem Volk das höchste Gut, den Frieden, zu erhalten streben, sondern auf der Seite derer, welche das Kriegsgespenst so lang heraufbeschwören, bis es mit Feuerzungen und Schwerterklirren wirklich kommt“.
Dennoch hofft Umfrid, die politisch Verantwortlichen aller Großmächte würden nichts unversucht lassen, um einen „Weltenbrand“ zu verhindern, eine Hoffnung, die sich als trügerisch erweisen soll. Der Erste Weltkrieg frisst alles Erreichte weg. Die Verdienste, die sich Umfrid auf dem Gebiet der deutsch-französischen und deutsch-englischen Verständigung erworben hat, sein Bemühen um eine „Friedenserziehung“, sein Kampf gegen den Antisemitismus und Einsatz für die Freiheit des Menschen und die Anerkennung der Menschenrechte (wie etwa in der armenischen Frage) als Bestandteil jedweder Friedenspolitik, seine soeben in die Wege geleitete Bildung eines Verständigungskomitees mit Russland – all das ist nun durch die Entfesselung des Ersten Weltkrieges zerstört.
Sind wir noch Christen?
Statt den Friedens-Nobelpreis zu erhalten, für den ihn, veranlasst von Wehberg, Professor Oppenheim in Cambridge vorschlägt, dabei wohl auch von Bertha von Suttner unterstützt, hat er 1914 erneute Schmähungen und Verfolgungen zu erdulden. Die Militärbehörden quittieren seine Vorträge „Sind wir noch Christen?“ und „Wird dieser Krieg der letzte europäische sein?“ mit einem dreifachen Verweis. Der freien Meinungsäußerung in Deutschland beraubt, veröffentlicht er 1915 in dem Schweizer Verlag von Orell Füssli seine gesammelten Kriegsaufsätze „Weltverbesserer und Weltverderber“. Für den von November 1915 bis Februar 1917 verbotenen „Völkerfrieden“ gibt Umfrid die Monatsschrift „Menschen- und Völkerleben“ mit mehr ethnographischen als politischen Abhandlungen heraus. Im Jahre 1916 untersagt ihm das stellvertretende Generalkommando in Stuttgart den Versand pazifistischer Bücher und Schriften, die Herstellung, Ausgabe oder Verbreitung vervielfältigter Mitteilungen sowie jedweden Schriftverkehr mit dem Ausland. Nicht einmal vor der Zensur seines privaten Briefwechsels schrecken die Militärbehörden zurück.
Im Sommer 1916 übersiedelt Umfrid nach Lorch. In stiller Abgeschiedenheit verfasst er „Das Vaterunser in moderner Form“, ein ergreifendes Plädoyer für die „Ewige Liebe“. Anfang des Jahres 1917 erkrankt er an einer schweren Grippe, die ein Gemütsleiden nach sich zieht. Weder Trost noch Ablenkung vermögen sein Leiden an der Zerstörung Europas zu lindern. Am Pfingstmorgen des Jahres 1920 stirbt Otto Umfrid, ohne Anerkennung gefunden zu haben. Freunde schmücken seine letzte Ruhestätte mit weißen Rosen und einer Friedenspalme. Auf dem Grabstein Umfrids steht das von ihm gewünschte Wort: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“
Mit dem Vermächtnis Otto Umfrids ist die EKD bislang wenig rühmlich umgegangen. Wohl gibt es örtliche und regionale Gruppen, Initiativen und Institutionen, die Otto Umfrids gedenken – mit Kranzniederlegungen, Gottesdiensten, Gedächtnisartikeln und -märschen etc. Immerhin hat der Konvent der württembergischen evangelischen Beistandspfarrer ihn anlässlich seines 150. Geburtstages 2007 als landeskirchlichen „Urvater der Friedensarbeit“ bezeichnet. Die Stadt Lorch hat ihm nun eine Gedenktafel gewidmet. Aber eine wirklich stetige Erinnerungsarbeit war und ist damit bislang nicht verbunden. Noch weiter ist die EKD-Leitung davon entfernt. Beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart (2015), also der Wirkungsstätte des bedeutenden Pazifisten, spielte Umfrid keine bedeutende Rolle. Keine „Kirchenmaus“ war hingegen 2017 sicher vor der Rückbesinnung auf Luther und die Reformation. Was dabei herauskommt, ist Juliane Zieglers Beitrag „Otto Umfrid – Der politisierende Pfarrer“ in dem von Margot Käßmann und Heinrich Bedform-Strohm herausgegebenen Sammelband „Die Welt verändern – Was uns der Glaube heute zu sagen hat“ (2017) zu entnehmen. Nichts erfährt der Leser darin etwas von Umfrids bedeutendem Kampf gegen den preußisch-neudeutschen Militarismus, die Kriegs- und Gewaltverherrlichung, von seiner Kritik am Bündnis von Thron und Altar und der kaiserlichen Kriegspolitik oder von seinen Warnungen vor dem Völkermord an den Armeniern. Vergeblich sucht man auch nach einem Hinweis auf das Schicksal von Umfrids Sohn Hermann (1892-1934), der wegen des von der Kirche missbilligten pazifistischen Engagements seines Vaters erst fünf Jahre nach dem bestandenen Theologie-Examen in Kaiserbach seine erste ständige Pfarrstelle (1922) erhielt. 1929 in das fränkische Niederstetten versetzt, protestierte er am 26. März 1933 in seiner Predigt scharf gegen die tags zuvor erfolgte Misshandlung jüdischer Bürger in der Kleinstadt und anderen hohenlohischen Gemeinden und deren Verschleppung in Konzentrationslager durch die SA und Gestapo. Umfrid kennzeichnete die Untaten als Verbrechen, wofür ihn der Oberkirchenrat rügte. Trotz der alsbald erfolgten Verhöre und der Drohung mit KZ-Haft, erklärte er sich weiter mit den verfolgten Juden solidarisch. Unterstützung fand er dabei von niemandem. Im Januar 1934 forderte ihn der NS-Kreisleiter zur Aufgabe seines Amtes auf. Am 21. Januar 1934 nahm Hermann Umfrid sich das Leben. Es steht zu befürchten, dass Vater und Sohn Umfrid es auch künftig in Deutschland schwer haben dürften, „heimisch“ zu werden.
Helmut Donat (Bilder: Die meisten Bilder stammen aus: Wolfram Wette [Hrsg.]: Ernstfall Frieden – Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914, Bremen 2016.)
Weitere Literatur:
– Christof Mauch/Tobias Brenner: Für eine Welt ohne Krieg: Otto Umfrid und die Anfänge der Friedensbewegung. Tübingen 1987 [antiquarisch erhältlich].
– Eduard Bernstein/Otto Umfrid: Armenien, die Türkei und die Pflichten Europas. Bremen 2005.