Hammer und Sichel über Konstanz

Der sozialistische Realismus lebt – zumindest in den Konzertsälen dieser Welt. Und das ist nicht zuletzt der anhaltenden Popularität von Dmitri Schostakowitsch zu verdanken, der selbst im Kalten Krieg in der Gunst des west­lichen Publikums den meisten seiner „kapitalistischen“ KollegInnen locker den Rang ablief. Die Südwestdeutsche Phil­har­monie spielt demnächst seine 9. Sinfonie, dazu gibt es Haydns „Paukenschlag“ sowie ein Posaunenkonzert von Nino Rota, dem Hauskomponisten von Federico Fellini.

Kaum ein anderer ernstzunehmender Komponist des 20. Jahrhunderts ist bis heute derart populär und in den Konzertsälen dieser Welt präsent wie Dmitri Schostakowitsch (1906–1975). Seine 15 Streichquartette gehören neben denen von Bartók zu den gewichtigsten Kammermusikzyklen des Jahrhunderts, und seinen 15 Sinfonien ist außer denen Mahlers in dieser Zeit kein anderer Zyklus gewachsen, auch nicht der des schwedischen Erzsinfonikers Allan Pettersson (1911–1980). Was nicht heißt, dass nicht herausragende sinfonische Einzelwerke anderer Komponisten wie des Berliners Stefan Wolpe (1902–1972) ganz andere Maßstäbe in Sachen Modernität setzten. Doch an einem westlichen Linken wie Wolpe, einem der originellsten und wandlungsfähigsten Komponisten seiner Zeit, besteht in den Konzertsälen nach wie vor wenig Bedarf.

Reif fürs Titelblatt

Der sowjetische Komponist Schostakowitsch hingegen erlebte schon in jungen Jahren eine Weltkarriere über alle ideologischen Grenzen hinweg: Bereits seine 1. Sinfonie machte international auf den erst 19-Jährigen aufmerksam. Spätestens seit seiner 7. Sinfonie, die 1941/42 teils im von den Nazis belagerten Leningrad entstand, war er in Ost wie West als musikalischer Heros anerkannt. Nicht umsonst setzte ihn das US-Magazin Time am 20. Juli 1942 gar aufs Titelblatt [1] – ein Maß an Aufmerksamkeit, das für lebende Komponisten gänzlich ungewöhnlich ist. Renommierte Dirigenten rissen sich um seine Werke, und selbst der Kalte Krieg nach 1945 konnte seiner Weltgeltung nichts anhaben, obwohl man im Westen tatkräftig geistige Mauern errichtete.

Die 9. Sinfonie als Todesfalle

Was ist nun mit Schostakowitschs 9. Sinfonie, die die Südwestdeutsche Philharmonie in ihrem nächsten Abo-Konzert am 18., 20. und 22. Januar unter der Leitung von Mikhail Agrest (Foto) aufführen wird? Neunte Sinfonien haben bekanntlich ihren eigenen Mythos – Beethoven, Schubert, Bruckner und Mahler haben allesamt ihre Neunte nicht lang überlebt.[2] Wie ging Schostakowitsch ausgerechnet 1945, im Jahr des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, seine 9. an? Er war immerhin in den Jahren zuvor mit seinen Sinfonien 7 und 8 zu dem musikalischen Chronisten des Zweiten Weltkrieges schlechthin aufgestiegen. Seine Lösung für die 9. aber war ganz einfach: Er schrieb ein schlankes, kurzes und im Vergleich zu den beiden Vorgängerinnen völlig unpathetisches Werk. Das war keineswegs die Über-Neunte, die das siegreiche Väterchen Stalin nach Meinung westlicher Kremlologen von ihm erwartete, sondern bestenfalls ein musikalisches Appetithäppchen. Was sollte das? War das ein Akt des Widerstands?

Eigentlich ist er doch einer von uns

Im Westen war Schostakowitsch während des Zweiten Weltkrieges als heroischer Künstler aus der verbündeten UdSSR herzlich willkommen. Außerdem bewies er ein glückliches Händchen, schnell die richtige Musik zur Zeit zu liefern: Hitler überfiel die UdSSR im Juni 1941, die grandiose „Leningrader“ Sinfonie wurde schon im März 1942 uraufgeführt und sofort weltweit nachgespielt. Das machte ihm im Westen niemand nach. In der UdSSR war Schostakowitsch früh eine Art Staatskomponist No.1, der allerdings immer wieder einmal wegen angeblich „formalistischer“ (neutönerischer) Tendenzen gerügt wurde und sich dann durch ein paar triviale Werke wie seine 5. Sinfonie „entschuldigte“.

Wie also konnte man seine Musik nach 1945, als der Kalte Krieg tobte, auch im Westen mit Begeisterung anhören, wo doch aus der mittlerweile verhassten UdSSR bekanntermaßen nur bolschewistisches Teufelszeug kam? Man interpretierte einfach den sowjetische Komponisten-Star als heimlichen politischen Verbündeten, wogegen sich Schostakowitsch kaum wehren konnte. Bis heute lobt man ihn gern als eine Art musikalischen Untergrundkämpfer gegen Stalin, seine Werke wurden hin und her gewendet, um ihnen geheime antistalinistische Botschaften zu entlocken und so seine Musik vor westlichen Ohren zu rechtfertigen. Seine Neunte ist kürzer als seine Achte – was für ein Tritt in Stalins Arsch! Heroisches Es-Dur – ja, aber doch nur ironisch gebrochen als Zeichen seines unbeugsamen Antistalinismus.

Ein lesenswertes Beispiel für solche Dechiffrierung war jüngst übrigens in der NZZ zu bestaunen: Schostakowitsch stellte demnach in seiner 9. Sinfonie Stalin mit einem Mahler-Zitat öffentlich als Esel bloß – und 70 Jahre lang hat’s niemand auf Erden gemerkt.[3] Mal schauen, welche antistalinistische Flaschenpost aus der Feder von Schostakowitsch der Musikozean als nächstes ans Ufer der Deutebolde spülen wird.

Musikbürokraten – blind und taub

All‘ diese geheimen musikalischen Botschaften sind nach westlicher Lesart aufgrund ihrer Raffinesse den tumben sowjetischen Musikaufpassern komplett entgangen. Diese Botschaften waren eben nur für westliche Ohren und für die Ohren oppositioneller Sowjetmenschen wahrnehmbar, überzeugte Mitglieder der KPdSU und sowjetische Musikfunktionäre hingegen konnten sie gar nicht hören, auch wenn sie noch so lang danach suchten. Danke, Herr, dass Du den anderen einen fetten Balken direkt vor die Ohren genagelt hast, während Du mich auf tausende Kilometer das Gras wachsen hören lässt…

Natürlich war ein Leben als exponierter Künstler im Stalinismus kein Zuckerschlecken, auch nicht für Schostakowitsch. Klar, man hatte seine Privilegien, aber Schriftsteller wie Isaak Babel, Wsewolod Meyerhold und Boris Pilnjak wurden kurzerhand an die Wand gestellt, und Menschen aus Schostakowitschs Umfeld verschwanden in den Lagern. Trotzdem macht es wenig Sinn, seine Werke auf angebliche kritische Kommentare zu Stalin zu verengen.

Wie wäre es stattdessen damit: Diese nüchterne und gerade im ersten Satz erstaunlich beiläufige 9. Sinfonie von 1945 drückt Schostakowitschs Erleichterung über das Ende des 2. Weltkrieges und die damit verbundene Wiederkehr einer gewissen Normalität aus – und ist Resultat einer verständlichen künstlerischen und menschlichen Ermattung nach einem der größten Gemetzel der Menschheitsgeschichte. Nach fünfeinhalb Jahren Krieg will hier ein sichtlich skeptischer Mensch kein Siegesgeschrei, sondern nur noch stinkgewöhnlichen Alltag.

Auf dem Weg zum Klassiker

Dass aber Schostakowitschs Musik beim Publikum weltweit weiterhin so gut ankommt, hat einen eher trivialen Grund, abgesehen davon, dass sie oftmals einfach großartig ist: Im Vergleich zur Musik der westlichen Avantgarde ist sie trotz all ihrer Ausdrucksstärke ziemlich konservativ und „romantisch“, und das zieht bis heute.

Es ist eine ironische Wendung der Musikgeschichte, dass Schostakowitsch durch die Musikpolitik der UdSSR auf eine nicht-avantgardistische musikalische Sprache verpflichtet wurde, der er letztlich bis heute seine anhaltende Weltgeltung verdankt. Angenommen, er wäre in den 1930er Jahren nachhaltig ins Fahrwasser der Avantgarde geraten, was in der UdSSR gänzlich unmöglich war, dann würde heute wohl kein Hahn mehr nach ihm krähen.

Der Geschmack des westlichen Publikums und jener der damaligen sowjetischen Musikfunktionäre war und ist identisch, nämlich rückwärtsgewandt. Kaum jemand setzt Schostakowitschs modernste Sinfonie, seine 4., aufs Programm, die in der UdSSR nach ihrer Entstehung 25 Jahre lang nicht aufgeführt wurde. Aber genau die, die beim Blick nach Osten am lautesten „Zensur“ zu schreien pflegten, haben Schostakowitschs 5. Sinfonie zu seiner meistgespielten gemacht. Mit der aber wollte Schostakowitsch nach Angriffen auf seinen „Formalismus“ („Chaos statt Musik“) [4] wieder Gutwetter machen, weshalb sie mit „schöpferische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik“ überschrieben ist. So etwas hört man doch allzeit auch im Westen gern.

Außerdem: Haydn und Rota

Das Konzert der Südwestdeutschen Philharmonie beginnt mit Joseph Haydns Symphonie Nr. 94. Der nachhaltige Erfolg dieser Symphonie beruht vor allem auf einem einzigen Takt im zweiten Satz, der nach sanftem tänzerischen Wiegen mit einem unerwarteten Fortissimo-Schlag („Krawumm!“) plötzlich für einen Moment das Publikum hochschrecken und die Schlafenden wach werden lässt.

Außerdem spielt Fabrice Millischer an diesen Abenden das Posaunenkonzert von Nino Rota, das einen denkbar großen Gegensatz zu Haydns Paukenschlag bildet – dieses Stück kann nämlich, das ergab ein heroischer Selbstversuch, auch einen noch so wachen Menschen schnurstracks einschläfern.

Text: PM, Harald Borges; Foto: Mikhail Agrest, fotografiert von Daniil Rabovsky


[1] http://content.time.com/time/covers/0,16641,19420720,00.html
[2] Zu 9. Sinfonien, speziell der Schostakowitschs, wie immer höchst unterhaltsam Leonard Bernstein im Video (englisch mit chinesischen Untertiteln): https://www.youtube.com/watch?v=FVfz5YymsXI
[3] http://www.nzz.ch/feuilleton/musik/das-geheimnis-von-schostakowitschs-9-sinfonie-der-weiseste-der-weisen-ein-esel-ld.125139
Der Autor beruft sich unter anderem auf Schostakowitschs angebliche Memoiren „Zeugenaussage“, ohne die massiven Zweifel an deren Echtheit zu erwähnen.
[4] Der berühmte Artikel aus der Prawda vom 28.01.1936 ist noch heute höchst lesenswert, hier eine deutsche Übersetzung: http://www.schostakowitsch.de/.cm4all/iproc.php/Chaos%20statt%20Musik.pdf?cdp=a&cm_odfile
Man beachte die Parallelen zur Argumentation gegen Neue Musik im deutschsprachigen Raum vom Kaiserreich bis zur Adenauerzeit.


Mittwoch, 18. Januar, 20 Uhr, Konzil Konstanz
Freitag, 20. Januar, 20 Uhr, Konzil Konstanz
Sonntag, 22. Januar, 18 Uhr, Konzil Konstanz
Einführungsvortrag eine Stunde vor Konzertbeginn.

Karten: 18, 28, 38, 48 Euro. Schüler und Schülerinnen, Studierende, Auszubildende, HelferInnen im Freiwilligen Sozialen/Ökologischen Jahr, Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen, Schwerbehinderte ab 80 Prozent Behinderung, Begleitpersonen von RollstuhlfahrerInnen und Behinderten mit SB-Ausweis „B“ (Begleitperson erforderlich) erhalten mit gültigem Ausweis ermäßigte Eintrittskarten.

Die Südwestdeutsche Philharmonie stellt regelmäßig, je nach Verfügbarkeit, Konzerttickets für Mitbürgerinnen und Mitbürger mit geringem Einkommen zur Verfügung. Diese sind über die Kulturtafel Konstanz, eine Initiative des Kulturbüros, erhältlich. Telefon: 07531-900-988, kulturtafel@konstanz.de

Last Minute: Schüler und Schülerinnen sowie Studierende und Auszubildende erhalten bei Philharmonischen Konzerten, Sonderkonzerten, Kammer- und Inselkonzerten in Konstanz an der Abendkasse 1 Stunde vor Konzertbeginn den besten verfügbaren Platz für 6 Euro (8 CHF). Einfach entsprechenden Ausweis mitbringen und an der Abendkasse vorlegen.

Karten gibt es unter anderem hier:
Südwestdeutsche Philharmonie, Mo.-Fr. 09.00-12.30 Uhr, Tel. +49 7531 900-816, philharmonie-karten@konstanz.de
Stadttheater Konstanz, Mo.-Fr. 10.00-19.00 Uhr, Sa. 10.00-13.00 Uhr, Tel. +49 7531 900-150, theaterkasse@konstanz.de
Karten, Konzertkalender und weitere Informationen auch im Internet:
www.philharmonie-konstanz.de