Heruntergekommenes Feuilleton
Ein verdienstvolles Buch! Der Literaturkritiker Stephan Reinhardt hat in den vergangenen 20 Jahren die Feuilletons der tonangebenden deutschen Tage- und Wochenblätter durchstreift und eine anhaltende Tendenz festgestellt: Die Redakteure und ihre Autoren schreiben abfällig, immer abfälliger über Menschenrechte, Moral, Frieden und sozialen Ausgleich.
Reinhardt wünscht sich Empörung über die Militarisierung der Außenpolitik, über den Abbau des Sozialstaats, über die Unterwerfung der ganzen Gesellschaft unter imperialistische Kapitalinteressen, aber auch bei Autoren, die früher, vor allem um 1968 herum, sensible Humanisten zu sein schienen, findet er bremsenlose Breitschaft zum Sozialdarwinismus. Auch und gerade die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen wirkt nicht mehr als Bremse. Man hat sich angewöhnt, diese Erinnerung unwillig abzuschütteln oder – je nach Bedarf – sie zur Propagierung neuer Eroberungspolitik zu mißbrauchen: Die Welt ist voll von neuen Hitlers, die wir, gerade wir Deutschen, beseitigen müssen …
Mit seinem Zitatesammelfleiß (sehr erfolgreich, sehr nützlich) und mit wachem Sinn für historische Zusammenhänge leistet Reinhardt das, was er von Intellektuellen erwartet und in den heutigen Feuilletons schmerzlich vermißt: Aufklärung. Seinen pauschalen Verratsvorwurf an die Intellektuellen möchte ich aber nicht unterschreiben. Wen oder was haben Ernst Jünger, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger, Karl-Heinz Bohrer, Botho Strauß, Uwe Tellkamp, Durs Grünbein verraten? Vielleicht die eine oder andere bessere Einsicht.
Aber nicht ihre gesellschaftliche Rolle. Mutige, ausdauernde Streiter gegen gesellschaftliches Unrecht wie Emile Zola oder Carl von Ossietzky waren schon immer seltene Ausnahmen. Und gegen die zumeist jüdischen gesellschaftskritischen Publizisten und Gelehrten aus der Weimarer Zeit, die, soweit sie überlebten und nicht im Exil blieben, zumeist in die DDR gingen, hat sich das bundesdeutsche Feuilleton immer gewehrt; seit 1989 will es gar nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Diejenigen aber, die sich im Feuilleton spreizen, möchte ich nicht summarisch als Intellektuelle verstehen – einschließlich solcher reaktionären Schwätzer wie Hans-Olaf Henkel und Arnulf Baring. Daß bei Reinhardt auch diese Namen fallen, bestätigt freilich, wie dummdreist das Feuilleton geworden ist. Ein Blick auf die Eigentumsverhältnisse in der Presse hätte zur Erklärung nicht geschadet.
Unverständlich bleibt mir, daß der kluge medienkritische Autor ausgerechnet die Desinformation der deutschen Medien über Jugoslawien und dessen vorletzten Präsidenten Milosevic für bare Münze nimmt. Die raunende, mystifizierende Sprache Peter Handkes mag ihm verdächtig vorkommen, aber Handke war einer der wenigen, die sich aus eigener Kenntnis geäußert haben. Es stimmt übrigens nicht, daß, wie Reinhardt schreibt, Milosevic vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt wurde; das spezielle Jugoslawien-Tribunal agierte auf schwacher Rechtsgrundlage und produzierte Siegerjustiz, konnte aber den Angeklagten keines einzigen Verbrechens überführen. Der Internationale Gerichtshof wies eine Klage gegen Serbien wegen Kriegsverbrechen in Bosnien ab. Bei gründlicher Betrachtung dieses Geschichtskapitels – und der damaligen Kampagne gegen Handke – hätte Reinhardt alle seine Thesen bestätigt gefunden und sich nicht selbst widersprechen müssen.
Stephan Reinhardt: »Verrat der Intellektuellen – Schleifspuren durch die Republik«, Oktober Verlag, 516 S., 19.50 €
Autor: Eckart Spoo/Ossietzky 02/2010