Hier (,) nicht (,) wo alles herrscht
Jochen Kelters neuer Gedichtband gibt zu denken. Der Titel „Hier nicht wo alles herrscht“ ist sperrig und sagt doch alles: „Hier nicht, wo alles herrscht“ – also nicht in der globalisierten Welt, wo das Kapital und seine Lakaien ausbeuten, unterdrücken und herrschen -, sondern „hier, nicht wo alles herrscht“, nämlich an einem utopischen Ort ohne Knecht- und Herrschaft, in einer Welt der Brüderlichkeit und des Glücks
Genau so funktionieren die Texte von Kelter (s. Foto): Ein Komma versetzt, nach oder vor „nicht“, und wir gelangen (im Sinne Hegels) vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.
Der neue Gedichtband des Autors ist streng komponiert. In zehn Abteilungen mit jeweils sieben Texten begegnet uns das Dante’sche Inferno, „wo alles herrscht“ („Im großen Wald“, S. 52), ebenso wie „Das Glück der Welt“ (S. 103), „nicht wo alles herrscht“. Zwischen diesen Gedichten sowie ihnen voraus- und nachfolgend finden sich Abteilungen mit Bezug zu des Schriftstellers eigener Kindheit, zu seiner Biografie, zur Literatur, zu Leben und Tod, zu fremden Orten: Jamaica, San Miniato, Pimlico, Rangun, New York – und immer wieder Paris.
In Paris lebte Kelter viele Jahre lang, alternierend zu seinem Schweizer Hauptwohnsitz am Bodensee: „… habe da / einen Ort verschachtelt / über den Bäumen der Avenue / einen Hochsitz im Nirgendwo / mit Füssen im Sand und Gestein“ (S. 95). Beides – die Stadt der Commune und die demokratische Schweiz (nicht die Schweiz der Banken!) – sind Fluchtorte des Dichters. In die Schweiz emigrierte er, als seine Laufbahn als Literatur– und Sprachwissenschaftler (nach seinem Studium der Germanistik und Romanistik in Köln, Aix-en-Provence und Konstanz) aus politischen Gründen endete; Berufsverbot.
In der Schweiz haben fortschrittliche Autorinnen und Autoren 1971 die Gruppe Olten gegründet. Sie hatte bis 2002 Bestand. Ihre Statuten forderten „eine demokratische sozialistische Gesellschaft“: „Sie [die Gruppe Olten] unterstützt politische Bestrebungen auf nationaler und internationaler Ebene, die die gerechte Verteilung der Güter, die Demokratisierung der Wirtschaft und der öffentlichen Einrichtungen, den Schutz der Welt vor militärischer und ziviler Zerstörung sowie die Verwirklichung der Menschenrechte bezwecken“. Jochen Kelter war von 1988 bis 2001 Generalsekretär der Gruppe Olten. Der Verband deutscher Schriftsteller (VS), heute Mitglied in der Gewerkschaft ver.di, wählte Kelter 1984 auf dem Saarbrückener Kongress als stellvertretenden Vorsitzenden in den Bundesvorstand. Außerdem war Kelter 1989 bis 2003 Präsident des European Writers’ Council.
Jochen Kelter ist also kein gewöhnlicher deutsch-schweizerischer Autor mit köllscher Herkunft, Germanistik-Ausbildung und allemannischem Bodenseeflair. Als Schriftsteller sowie in seiner Eigenschaft als Repräsentant seiner schreibenden Kolleginnen und Kollegen ist er Europäer und Weltbürger, Übersetzer und Vermittler, Herausgeber und Essayist. Er war und ist sich auch nicht zu schade, im Südkurier, der Provinztageszeitung auf der Konstanzer Seite des Bodensees, regelmäßig politisch-kritische Kommentare zu schreiben, wie sie sonst kaum noch in anderen deutschsprachigen Zeitungen zu lesen sind.
Zum neuen Gedichtband. Darin findet sich eine Abteilung „Durchs dunkle Land“. Die Gedichte tragen Titel wie „Hürtgenwald“, „Wannsee“ und „6. August“. „Hürtgenwald“ (S. 45) erinnert an den Westwall und die ‚Allerseelenschlacht’ vom 6. Oktober 1944 bis 10. Februar 1945. Schätzungen zufolge wurden dort rund 24 000 Menschen getötet, darunter auch GI’s aus Alabama: „… letzte Offensive Winter / Wälder abgebrannt eisige / Kälte Kanonendonner holt / euch den Sprit beim Feind / Männer den Sieg verloren / den Sieg wiedererrungen / Dörfer dreimal umgedreht / die Welt untergepflügt / drei aus Alabama verschollen / … / einmal in hundert Jahren / für eine gerechte Sache / tierisch verreckt“. Ein gewaltiges, ein ungeheuerliches Gedicht, geschrieben aus der Erinnerung des Kindes an der „Hand meines Vaters / Grossmutter nicht weit / von hier knöpft dir / die Hosen zieht dir das / Hemd richtig an aber / danach alles Schweigen“. Ungeheuer, aber auch ungeheuer aktuell.
Es gibt Texte bei Kelter, die – wie beispielsweise das Gedicht „6. August“ (S. 49 f.), das auf die Folgen des Abwurfs der Atombombe 1945 Bezug nimmt – für sich selbst sprechen. Sie bedürfen keiner Rezension. Ihre Metrik allein ist Botschaft, erschüttert: „’Little Boy’ fällt / vom Himmel hoch / ‚Little Boy’ kommt / aus fünfzehntausend / Metern auf die Erde / herab es ist kurz nach / acht die Uhren bleiben / in dieser Minute fortan / bleiben die Uhren / stehen … / … / hundertdreissigtausend / Tote Hiroshima und / danach hunderttausend / fünfundsiebzigtausend / Tote Nakasaki und / dann hunderttausend / und hunderttausend / der Krieg braucht / die Menschen nicht / mehr nicht die Erde / die Uhren bleiben / fortan bleiben / die Uhren stehen / die Welt ist nur / noch auf Geheiss / keine nicht eine / Zeile noch wert“.
Jochen Kelters neuer Gedichtband gibt zu denken. Aber auch zu hoffen. Es ist keine Abschieds- und Trauer-Eloge. Denn: „… / mir träumt es warte noch / unter den dunklen Bäumen / das Glück der Welt“ (S. 103), „ … und finde / Räume für ein ungesagtes Glück / das raunt von weiten Tagen / und fühlt sich an wie alter / Schmuck niemals getragen / wer jetzt noch weiter will / muss gegen Süden fahren und / muss entgegen allem Herbst / Unsterblichkeit erfahren“ (S. 109). Eine Freude, dass Autoren wie Jochen Kelter nicht verstummt sind. Ein besonderes Verdienst des Verlags Weissbooks, dass er uns Kelters neue Gedichte beschert, in einer Reihe mit Elisabeth Borschers, der „Meisterin der Stille“ (Marcel Reich-Ranicki) und dem Schweizer Poeten Adrian Naef.[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]
Autor: Rudolph Bauer
Jochen Kelter: Hier nicht wo alles herrscht. Frankfurt/Main: Weissbooks 2014. ISBN 978-3-86337-070-1 (broschiert / € 16,90) und 978-3-86337-081-7 (e-Book / € 9,99).
Jochen Kelter: Hier nicht wo alles herrscht.
Der Mann hat noch nicht aufgegeben.
Ein Wunder nach solch einem Leben.
Er gäb zu hoffen und zu denken.
Dann werde ich mir sein Buch jetzt schenken.
28.01.2015