Ho, Ho, Ho Chi – wer?
„Ho, Ho, Ho Chi Minh“ steht in grellen Lettern auf der Straße vor dem Eingang zur Konstanzer Spiegelhalle, in der das Stück „Junge Hunde“ derzeit aufgeführt wird. Die 68er skandierten einst den Namen des kommunistischen Ministerpräsidenten Nordvietnams auf Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, in dem die USA die Freiheit der Welt auf der anderen Seite des Erdballs, nämlich in Vietnam, zu verteidigen behaupteten. Unsere Mitarbeiterin schildert hier ihre Eindrücke.
Für junge TheaterbesucherInnen, die die Wende nicht erlebt haben oder gar echte „Millennials“ sind, mag dieser Slogan zunächst unverständlich sein. Doch Oliver Vorwerks Inszenierung von „Junge Hunde“, dem Coming-of-Age-Roman aus der Feder des Intendanten Christoph Nix, vermag Klarheit darüber zu schaffen, was die Jugend (auf dem Lande) Ende der Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts bewegte – so sehr, dass sie auf die Straßen ging und auch vor der ein oder anderen Straftat für eine bessere Welt nicht zurückschreckte.
Die Kinderrevolution auf dem Lande
Im Roman wie auch im Stück geht es um das Erwachsenwerden in einer politisch hochbewegten Zeit mit allem, was dazugehört: Konflikte mit den Eltern und der älteren Generation im Allgemeinen, der Wunsch irgendwo dazuzugehören und gehört zu werden und selbstverständlich die erste Verliebtheit. Die Bühne, die Elena Bulochnikova gestaltet hat, erinnert an das Innere eines Gewächshauses – schwarze Balken bespannt mit milchweißer Folie. Vielleicht ist es nur Zufall, dass das „Gewächshaus“ Bühne und der vietnamesische Dschungel ein schwül-feuchtes Klima gemeinsam haben, in dem junge Pflanzen – und junge Menschen? – schnell heranwachsen. Graffitis wie „Uschi Obermaier ist Verräterin“ oder ein leuchtend pinkfarbenes Peace-Zeichen durchbrechen den schnöden Käfig, aus dem der 15-jährige Kleinstädter Menz zusammen mit seiner Ho-Chi-Minh-Gruppe ausbrechen will. Die Freunde möchten die Revolution in das verschlafene hessische Nest Herborn („Die Straßen von Dallas sind die Haupstraße von Herborn. Sie führen alle in die Hölle.“) bringen, in dem keiner ein Wort über den vergangenen Weltkrieg verliert und die vielen Fragen der Jugend, etwa ob der Regionalzug, mit dem man jeden Morgen zur Schule fährt, auch Menschen nach Auschwitz deportiert habe, unbeantwortet bleiben. Mit szenischer Leichtigkeit erzählt Vorwerk von einer Jugend, über die sich der lange Schatten des zweiten Weltkriegs und bedrückender Ereignisse der Zeitgeschichte legt und sich trotzdem oder gerade deswegen (?) nach Freiheit, Abenteuer und Liebe sehnt.
Wilde Zeiten
Der historische Kontext zieht in Form von Projektionen bekannter Foto-Ikonen, wie die vor einem Napalm-Angriff fliehende Phan Th? Kim Phúc, und Filmausschnitten sowie Tonband-Einspielern, etwa von Bombardements oder einer Hitler-Rede an den Darstellenden vorüber. An einigen Stellen berichtet der Erzähler; im Gegensatz zum Buch, das allein aus Menz‘ Sicht geschrieben ist. Die Inszenierung schildert das Geschehen aus dem Blickwinkel verschiedener Personen. Figuren, die im Buch nur beobachtet wurden, werden so selbst zu Erlebenden. Besonders gelungen ist der amerikanische Feldwebel, der mit einem Star-Spangled Banner behangen und einem Stahlhelm auf dem Kopf von unterschiedlichen Schauspielern verkörpert wird – die Erkennungszeichen werden beiläufig weitergereicht. Zentrale Rollen wie Menz (ein gutes Paar: Arlen Konietz und Ralf Beckord), seine Schwester (voll darstellerischer Energie: Sarah Siri Lee König) und Leo (in seinem Element: Peter Posniak) sind den DarstellerInnen eindeutig zugeordnet. Zwischen anderen Charakteren wechselt das Ensemble schnell und mühelos mithilfe weniger Requisiten. Arlen Konietz und Peter Posniak präsentieren darüber hinaus ihr musikalisches Talent an der Gitarre und trällern Zeitgeist-Songs wie Bob Dylans „The times they are a‘changing“ oder „Mother“ von John Lennon. Und ja, Tom-Darsteller Axel Julius Fündeling kommt mit Lennon-Brille und Pilzkopfperücke dem jungen Beatle schon recht nahe.
Aus Spaß wird Ernst
Bedauerlich ist aber das schon fast klamaukige, überzogen inszenierte erste Drittel des Stücks. Die Truppe hat zwar sichtlich Spaß am Spiel, jedoch erweckt die übermäßige Portion Selbstironie den Eindruck, man wolle sich über diese jungen Leute, die unerfüllte Wünsche und Sehnsüchte und ausreichend Fantasie haben, sich eine Welt ohne Gewalt und Krieg vorzustellen, lustig machen. Eventuell wollte Oliver Vorwerk mit dem noch harmlosen Vortrag kläglicher Anmachsprüche und einem zwischen zwei Rülpsern hervorgebrachten Nietzsche-Zitat aber auch das jugendliche Publikum ansprechen oder Klischees der älteren Generation aufgreifen, die besagen ‚die Jugend‘ sei ja aus Prinzip dagegen und nur weil es ihr Spaß mache, nicht aber aufgrund ernsthafter politischer Überlegungen. Zum Glück kratzt er noch die Kurve, indem er diese Reflexionen im Laufe des Stücks zunehmend einstreut und auch zum Beispiel das Publikum aufgefordert wird, sich eine gerechte Gesellschaft als große Familie vorzustellen oder sich die enorme Polizeigewalt gegen Demonstranten vor Augen zu führen. Sex, Drugs and Rock’n’Roll hin oder her – diese unablässige Hoffnung auf eine bessere Zukunft (böse Zungen möchten es vielleicht Naivität nennen) vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Machtlosigkeit eine ganze Generation politisiert.
Das schwierige Verhältnis zwischen Theorie und Praxis
Eine „Revolution zwischen Karstadt und der Eisdiele“ wünschen sich Menz und seine Ho-Chi-Minh-Gruppe, scheitern aber schließlich an einer fehlenden gesamtgesellschaftlichen Unterstützung ihrer Forderungen. „Lasst Euch doch alle vergasen“, rufen ihnen die Arbeiter vor den Fabriken hinterher. Für eine große gesellschaftliche Veränderung fehlt vielen die Vision und „Onkel Ho sei auch ein Massenmörder gewesen“, so sagt man. Die dennoch vorhandene Unzufriedenheit erzeugt wachsenden Druck von rechts. „Die Nazis sind brutal“, man ist ihnen– zumindest körperlich – nicht gewachsen („Kampfsport kenn ich nur aus’m Kino“). Am Ende sitzen da verzerrt geschminkte Clowns (ein Bild?) im Zentrum der Bühne auf dem kreisrunden Rasenteppich mit Blumen in den US-amerikanischen Nationalfarben und fragen sich, was geblieben ist von den 68ern. „Eine Entnazifizierte Gesellschaft“, sagt da einer mit fester Stimme – vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in Halle sollten wir darüber noch einmal nachdenken. „Junge Hunde“ will uns durchaus lehr- und aufschlussreich mit einem kraftvollen Bühnenbild und einer umfassend starken schauspielerischen Leistung daran erinnern: Die „Macht ist vom Volk immer nur geliehen“. Unbedingt lesen und/oder ansehen!
F. Spanner (Foto: Ilja Mess, Theater Konstanz)
Nächste Aufführungen: 26.10. und 30.10., jeweils um 20 Uhr und am 3.11. um 11 Uhr.