In Sprache verloren – Urs Faes‘ neuer Roman

Wenn Sie nicht recht wissen, womit sie die Zeit zwischen Corona und Weihnachten sinnvoll verbringen können, versuchen Sie es doch mal mit einem guten Buch, beispielsweise von einem zeitgenössischen Schriftsteller. Jochen Kelter empfiehlt Ihnen zu diesem Zweck den neuen Roman von Urs Faes, der seit Jahrzehnten zu den bedeutenden Sprachkünstlern zählt. Seine Stärke sind die scheinbar kleinen, alltäglichen Geschichten, Fragen und Empfindungen, wie sie uns allen oft nur zu nahe sind.

„Unter Tage“ oder „Im Verlauf des Tags“ – beide Assoziationsmöglichkeiten des Titels von Urs Faes‘ neuem Roman „Untertags“ lassen sich auf diese Erzählung anwenden. Zu Beginn mag man sich als Leser fragen, ob einer da wirklich realistisch erzählt. Eine Frau und ein Mann, beide in fortgeschrittenem Alter, lernen sich auf dem Frankfurter Flughafen kennen, sie verbringen eine halbe Stunde im Gespräch, bevor sie davonfliegen: Sie, die Schweizerin mit dem so deutschen Namen Herta, zurück nach Zürich, er, Amerikaner, nach Wyoming in die Rocky Mountains. Aber er verspricht, sie zu besuchen. Und hält tatsächlich Wort. Steht da mit seinem alten Seesack vor der Tür ihres Hauses am Zürichsee. Ist das nicht etwas forciert, überspannt, vielleicht sogar kitschig?

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Aber die einfühlsame, behutsame Erzählweise überzeugt schon bald. So ist es halt. Da beschließen zwei, den Rest, die zweite Hälfte ihres Lebens miteinander zu verbringen. Und Jakov mit Seesack, Stiefeln und Cowboyhut erweist sich als eher untypischer Mann des Westens, er ist Nachfahre aus Ostpreußen eingewanderter Juden, spricht neben dem Amerikanisch seiner Heimat ein altväterliches Deutsch, das zu seiner ausgesuchten Höflichkeit und seinen altmodischen, ganz und gar nicht amerikanischen Manieren passt. Sie führt dagegen eher ein Durchschnittsleben mit zwei Töchtern, von ihrem Mann für eine Jüngere verlassen und in Teilzeit tätig. Er dagegen hat seinen Betrieb verkauft und lebt vom Geld, das er angelegt hat und über das er genau Buch führt. Zahlen sind seine Welt (er vermisst und notiert auch sonst allerlei), nicht Worte. Sie wandern und reisen gemeinsam in die südlichen Berge, besuchen auch seine raue amerikanische Heimat, gehen aus – etwa ans Zürcher „Sechse-Läuten“ (womit der Autor ganz beiläufig ein weiteres Klischee unterläuft).

Irgendwann wird Jakov vergesslich, leicht verwirrt, verpasst Verabredungen, versorgt Dinge an gänzlich falschen Orten. Von einer Reise zu seiner Hütte im Bergell, die er einmal im Jahr stets alleine unternommen hat, kehrt er bereits am folgenden Tag verwirrt zurück. Die Hütte war ihm plötzlich fremd erschienen, die Autofahrt anstrengend und beschwerlich. Die Konsultation eines Arztes, die Herta für sich schon vorher angeraten gefunden hatte, wird unumgänglich. Es beginnt die Odyssee der Spezialisten, Untersuchungen, Kliniken und Tagesheime, die Jakov mental und psychisch überfordern. Er leidet unter Demenz, die nicht aufzuhalten ist, lediglich verlangsamt werden kann. Er findet Namen und Wörter nicht mehr, mit denen er Dinge bezeichnen konnte, lächelt noch, kann aber auch mürrisch und verschlossen sein. Er verirrt sich, kann das Auto nicht mehr selber fahren. Der Verfall nimmt seinen Lauf. Der dramatischste Aspekt ist der Verlust der Sprache. Jakov verstummt.

Der Roman beginnt mit dem Ende, an dem Herta seine sterblichen Überreste in zwei Urnen gibt. Die eine ist für den Platz unter seinem Baum am Hang bestimmt, die andere wird unter strengem Geleitschutz in die USA zu seinen Kindern gebracht, die alles, was ihrem Vater gehört hat, zurückverlangen, auch die alte Standuhr, die sein Großvater aus Ostpreußen übers Meer mitgebracht hatte. Herta und ihre Töchter öffnen am Schluss einen Umschlag mit der Aufschrift „Virginie“, „Inie“ hatte Jakov zuletzt stets gemurmelt. Es könnte sein, so legen die Dokumente und alten Fotos nahe, dass Jakov sich in die viel jüngere zweite Frau seines Vaters verliebt, vielleicht sogar ein Kind mit ihr hatte, sich mit seinem Vater überwarf, fortzog und seine eigene Firma gründete. Herta leidet unter der Vorstellung, Inie sei vielleicht Jakovs einzige große Liebe gewesen. Völlig erhellen lässt sich die Vergangenheit indessen nicht. Und das tut dem ruhigen, mitfühlenden, auf alle Sensation und Dramatik verzichtenden Duktus des Romans gut, der eindrücklich beweist, dass auch ein unspektakuläres, zurückgenommenes Erzählen gute Literatur hervorzubringen vermag. Und dass, nicht zuletzt, unser Leben in unserer Sprache verankert ist.

Jochen Kelter (Bild: Neva Micheva, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)


Urs Faes: Untertags, Roman, Suhrkamp Verlag, 240 S., FR 32.90, Euro 22.00