Ist das Paradies denn keine Kneipe?

Es ist ungewöhnlich, dass ein „klassischer“ Musiker zugleich auch als politische Person agiert und in seinem Heimatland gar als Nestbeschmutzer vor den Kadi gezerrt wird. Der international renommierte türkische Pianist und Komponist Fazıl Say ist in dieser Hinsicht also eine echte Lichtgestalt. Die Südwestdeutsche Philharmonie spielt in ihrem nächsten Konzertprogramm sein Klarinettenkonzert – neben Ohrwürmern von Bizet und Svendsen.

Fast auf den Tag genau vor vier Jahren wurde Fazıl Say in İstanbul zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Er soll im Internet die religiösen Gefühle seiner Mitmenschen (meint natürlich: der religiös Vernagelten unter seinen Mitmenschen) verletzt haben. Das geht bekanntlich ganz einfach: Say hatte im Internet zum Beispiel Verse des Universalgelehrten und Dichters ‘Omar Chayyām (1048-1131) zitiert: „Du sagst, durch Deine Bäche wird Wein fließen, ist das Paradies denn eine Schänke? Du sagst, Du wirst jeden Gläubigen mit zwei Jungfrauen belohnen, ist das Paradies denn ein Bordell?“

Außerdem hatte Say sich über einen Muezzin lustig gemacht, der seinen Gebetsruf ziemlich hastig runterspulte: Say spottete, der habe wohl möglichst schnell zu seiner Geliebten oder seinem Rakı heim eilen wollen. [1][4] So etwas kommt bei den in seiner Heimat herrschenden Kreisen und der dortigen Justiz gar nicht gut an.

Ein politischer Musiker?

In der Türkei der AKP und Erdoğans, in der die Trennung zwischen Staat und Religion zunehmend aufgehoben wird, schlägt auch einem weltweit erfolgreichen Musiker wie Say schnell offener Hass für solche politischen und religiösen Äußerungen entgegen. Allerdings ist das der 1970 geborene Künstler, der mit einem nicht unerheblichem Showtalent und Sendungsbewusstsein gesegnet ist, gewohnt. Er hat sich bereits vor mehr als zehn Jahren als eingeschworener Atheist und AKP-Gegner geoutet. Kein Wunder also, dass seine Werke in der Türkei aus den Konzertprogrammen verschwinden.

Say, der im Duo besonders gern mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja spielt, hat aber nicht nur vor den politischen, sondern auch vor den künstlerischen Auswirkungen der türkischen Kulturpolitik gewarnt. Er beklagt das Sterben des Musikunterrichts an türkischen Schulen ebenso wie die Schwierigkeiten für das zunehmend als obszön beargwöhnte Ballett und die wachsende Abschottung gegen westliche Musik.

Oratorium auf Hikmet

Seine ganz besondere Verachtung aber gilt dem populären Arabesk-Pop, herzerwärmenden – nach Says Meinung vor allem hirnerweichenden – Schmachtfetzen sondergleichen mit einem arabischen Einschlag: „Ich schäme mich für das Arabesk-Proletentum beim türkischen Volk.“[4] Er meint damit vermutlich vor allem Musiker wie den auch in Deutschland bekannten Ferdi Tayfur, der in der Türkei Kultstatus genießt.[6][3]

Dass Say selbst Oratorien über Nâzım Hikmet und Metin Altıok komponiert hat, ist ebenfalls ein künstlerisches Statement: Hikmet, ein bedeutender Lyriker, war in der Türkei immer wieder inhaftiert und starb schließlich 1963 im Exil in Moskau; Altıok hingegen wurde ein Opfer des Brandanschlags von Sivas 1993, bei dem ein Mob im Namen des Glaubens 37 Menschen, darunter etliche Künstler, umbrachte.

Fazıl Say ist also eine durchaus spektakuläre Persönlichkeit, wie man sie hierzulande unter den Produzenten und Interpreten der abendländischen Kunstmusik nicht findet. Er ist zudem ein Wirbelwind und sprüht vor Energie. Was macht ein Mann wie er eigentlich, der durch die Welt fliegt und ein Konzert nach dem anderen gibt, zur Entspannung? „Wenn ich mich abreagieren muss, bleibt ja noch meine Liebe zum Fußball.“ Er ist natürlich Fan von Fenerbahçe aus Kadiköy auf der asiatischen Seite İstanbuls.[5]

Konzert nach persischen Versen

All das dürfte die Südwestdeutsche Philharmonie aber kaum bewogen haben, das 2011 entstandene Klarinettenkonzert von Say, der auch schon in Konstanz aufgetreten ist, aufs Programm zu setzen. Die Entscheidung für dieses Werk ist natürlich schon bei der Programmplanung vor weit mehr als einem Jahr gefallen und daher auch nicht als Kommentar zur aktuellsten politischen Entwicklung in der Türkei zu verstehen. (Außer Says Klarinettenkonzert gibt das Orchester an diesem Abend übrigens Bizets populäre L’Arlésienne-Suiten Nr. 1 und 2 sowie eine Festpolonaise des One-Hit-Wonders Johan Svendsen).

Say ist vielmehr ein Pianist und Komponist, der einfach gut ankommt, denn er besitzt Charisma und hat ein Gespür für Publikumserwartungen. Seine musikalischen Wurzeln hat er vor über 25 Jahren während seines Studiums in Deutschland entdeckt, und zwar vor allem „die tonalen und folkloristischen Elemente. Das steckt so in meinem Blut. Und was im Blut steckt, ist beim Komponieren primär, das Intellektuelle sekundär.“[5] Eine klare Absage an jegliche Avantgarde also, und so hört sich Says Musik denn auch an: Ein wenig nostalgisch, ziemlich filmreif, schwer romantisch und mit einem gemäßigten Folklore-Anklang. Einen guten Eindruck von seiner Persönlichkeit und Musik vermittelt übrigens ein von ihm selbst anmoderierter Live-Mitschnitt seiner „İstanbul Symphony“ im Internet.[2]

Ein persischer Klassiker

Der inhaltliche Bogen zwischen dem Prozess gegen Say in İstanbul und dem nächsten Konzert der Südwestdeutschen Philharmonie ist übrigens leicht zu schlagen: Das Klarinettenkonzert von Say, das das Orchester unter der Leitung von Ari Rasilainen zusammen mit dem schweizerischen Klarinettisten Reto Bieri (Foto) spielen wird, ist nämlich dem eingangs erwähnten iranischen Universalgelehrten ‘Omar Chayyām (auch: Omar Khayyām) gewidmet. Dessen Nachruhm beruht allerdings weniger auf seinen großen wissenschaftlichen Leistungen als vielmehr auf seinen teils unbotmäßigen Vierzeilern, die oft um Themen wie Liebe, Tod und Alkohol kreisen.

Auf den Tod eines Affen

Hier liegt er nun, der kleine, liebe Pavian,
Der uns so manches nachgetan!
Ich wette, was er itzt getan,
Tun wir ihm alle nach, dem lieben Pavian.

Dieser Vierzeiler übrigens stammt, wie Sie sich beim Lesen sicher schon gedacht haben, nicht von Chayyām – sondern von Lessing.

MM/Harald Borges (Foto: © Serban Mestecaneanu)


Konzerte:
Mittwoch, 26.04., und Freitag, 28.04., um 20 Uhr im Konzil Konstanz
Samstag, 29.04., um 20 Uhr in der Stadthalle Singen
Sonntag, 30.04., um 19 Uhr in der Graf-Burchard-Halle Frickingen

Karten: 18 bis 48 Euro, Preiskategorien und Ermäßigungen: http://www.philharmonie-konstanz.de/karten-und-service/kartenpreise.html
Karten sind bei der Südwestdeutschen Philharmonie (9.00 Uhr bis 12.30 Uhr), dem Stadttheater Konstanz (07531 900-150), bei der Tourist-Information am Hauptbahnhof sowie allen Ortsverwaltungen erhältlich. Tickets können auch im Internet gekauft und ausgedruckt werden: www.philharmonie-konstanz.de.


Anmerkungen:
[1] http://www.sueddeutsche.de/panorama/tuerkischer-musiker-fazil-say-pianist-wegen-islam-beleidigung-verurteilt-1.1649133; http://www.sueddeutsche.de/kultur/anzeige-gegen-tuerkischen-pianisten-fazil-say-wie-in-einem-absurden-theaterstueck-1.1500222; ein brauchbares Porträt: http://www.sueddeutsche.de/kultur/star-pianist-fazil-say-das-enfant-terrible-der-tuerkei-1.2570790
[2] https://www.youtube.com/watch?v=8ZtMVdnnm_Q
[3] In einer ganz eigenen Liga sang übrigens der überwältigende Zeki Müren, eine Art türkischer Liberace oder Divine: https://www.izlesene.com/muzik/zeki-muren
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Faz%C4%B1l_Say
[5] https://portraits.klassik.com/people/interview.cfm?KID=1865
[6] https://www.youtube.com/watch?v=kNuZZzmOlKM&index=3&list=RDtaNwBEcZ-Ds