„Jetzt mache ich einen Satz“

So der Titel eines knapp 50-seitigen Essays, den der Schriftsteller Jochen Kelter kürzlich vorgelegt hat. Darin beschreibt er seine ganz persönlichen Eindrücke über die Veränderung der Bodensee-Region, oft bezogen auf Konstanz und den benachbarten Thurgau. Rückblickend erinnert er auch an längst verblichene Zeitgenossen und skizziert das schweizerisch-deutsche Nebeneinander mit all seinen Ecken und Kanten. Ende Oktober lädt Kelter zu Lesungen in Konstanz und Meersburg ein. Hier schon mal einige Passagen aus dem Büchlein mit dem Untertitel „Ein fast aussichtsloser Versuch über die gelöschte Vergangenheit“.

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Der Taxifahrer am Freitagabend berichtet, heute, Mitte April sei es mit dem Autoverkehr wieder mal eine unüberbietbare Katastrophe gewesen. Den Einkaufstouristen aus der Schweiz, den Osterurlaubern und Heimkehrern am Ende der Ferien. Aber es komme ja sowieso immer noch schlimmer. Die Stadt sei einfach zu klein, um täglich Besucher und Blechlawinen aufzunehmen wie eine Grossstadt. Zeitweise bewege sich rund um die Altstadt nichts mehr. Und jetzt sei auch noch eine der wichtigsten Ausfallstrassen Richtung Westen bis zum Herbst gesperrt. Er sei Jahrgang 1963, draussen vor der Stadt beim Kloster Hegne aufgewachsen. Schon als er sieben war, hätten die Leute gesagt, nächstes Jahr kommt die Autobahn. Das sei jetzt fünfundvierzig Jahre her. Doch, so kenne ich diese Stadt. Beinahe alles ist hier schiefgelaufen, seit sie den Jan Hus vor undenkbaren sechshundert Jahren während des Konzils verbrannt haben.

Verkehrstechnisch liegt sie denkbar ungünstig, was vor sechshundert Jahren noch niemand ahnen konnte. Zu Land das Ende eines Wurmfortsatzes, ein letzter Halt auf dem schmalen Weg zwischen Wassern, deren südlichen Teil Montaigne einst für einen breiten Fluss hielt, umschlossen vom See, eingeschnürt von Ausland. Shoppingtourismus, Rapido-Sightseeing, Rentnerglück, Abziehbildlandschaft, Konsumgeilheit. Hier ist der Bär los. Das ist neu und zu viel. Das hat den verdösten, nun herausgeputzten Winkel überfallen und überrannt. So erreicht der Turbo-, der Tageskurskapitalismus im SUV mit seinem Credo ‚Es gibt kein Morgen‘ die letzten bewohnten Provinzen.

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Wenn es das Wetter es erlaubt, halte ich mich um die Mittagszeit mitunter auf einem Platz zwischen Grenze und Innenstadt auf, einem grossen Parkplatz, der irgendwann unterirdisch ausgehöhlt oder überirdisch überhöht werden soll und zweimal im Jahr, im Frühjahr und Herbst, für die traditionelle Messer, also die Kirmes oder Chilbi geräumt wird. Am Kiosk, der von Frühjahr bis Herbst bei erträglichem Wetter immer ein paar Plastiktische und -stühle im Freien stehen hat, verzehre ich ein Fleischkäsebrötchen oder eine Bratwurst und lese die regionale Monopolzeitung, die sich ihrer Umgebung angepasst hat: eine Alibiverpackung für eingelegten Werbemüll. Hier sind die Brüche des neuen Jahrhunderts wie Schwingungen an der Peripherie sehr gut spürbar. Denn der Platz ist nach der Liberalisierung des deutschen Fernverkehrs jetzt auch der Busbahnhof der Stadt. Die Busse kommen und gehen von und nach Zürich, München, Stuttgart, Berlin. Da steht dann die pakistanische oder die afghanische Familie mit ihrem Gepäck, Töchter mit leichten Taschen werden deponiert, australische oder englische Studenten mit schweren Rucksäcken suchen ihren Abfahrtsplatz, südländische Familien mit schweren Koffern reisen weiter, wer weiß wohin. Hier kann man die Migrationsströme der globalisierten Welt im Zustand der Feinverteilung betrachten. Da wird Ausschau gehalten, Orientierung gesucht und nur verhalten gesprochen. Manche suchen die Toilette auf, während an den Tischen die Rentner aus der Umgebung ihren Krankenstand und die neuesten Lebenskrümel tauschen. Die hier sesshaft gestrandeten Veteranen der französischen Garnison die Wasserstandsmeldungen aus der fremden Heimat diskutieren. Die Männer von Tiefbauamt und städtischer Müllabfuhr ihre Mittagsbrote mit einem Bier verzehren und auf alle da oben und weit weg fluchen. Besser gekleidete Schweizer Rentner nach ihrer hier so viel billigeren Pflege bei Masseur oder Physiotherapeuten leutselig gegen alle eine Cola oder ein kleines Bier trinken und ein Gott vergelt’s wünschen …

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Ich hasse alle Schweizer, die in der Stadt wild oder mit Bedacht shoppen und sich anschliessend in langen Blechkolonnen zurück über die Grenze quälen. Die Familienmutter, die einmal im Monat mit der Bahn anreist, ihre Grosseinkäufe tätigt und damit bis zu vierhundert Franken spart. Den Geiz-ist-geil-BMW-Fahrer. Die Freundinnen und Paare aus fünf Kantonen, deren Kehllaute die Gassen der Innenstadt, die alten Fassaden und den Himmel darüber beleidigen, obwohl beide solche Laute seit Jahrhunderten hören mögen, wenn auch nicht so allgegenwärtig geballt. Die so tun, als seien sie hier heimisch. Aber nicht daheim sind. Aber nicht gelernt haben, dass sie mit Mittelland und Bergen nicht überall daheim sind. Deren soziale und emotionale Fähigkeiten das tägliche Shopping-Festival bei weitem übersteigt. Ich kann ihre selbstverständliche Selbstgewissheit hier nicht leiden.

Ich hasse alle Deutschen, die im schweizerischen Thurgau, im Sankt-Gallischen oder in Schaffhausen wohnen, am Morgen mit dem SUV oder Daimler (der den bescheideneren badischen Benz verdrängt hat) über die Grenze zur Arbeit fahren oder von draussen in die Schweiz zur Arbeit. Sich, angeblich integriert, der niedrigeren Steuern und Mieten wegen einbürgern lassen wollen und ihre Kinder gleichzeitig in Deutschland zur Schule schicken, wo sie den Einheimischen die Plätze wegnehmen.

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Im Spätsommer 1970 ging die Saat der rechten Hetzer dann auch in der Provinz auf. Die NPD im Gemeinderat hatte den Oberbürgermeister aufgefordert, gegen das „arbeitsscheue und asoziale Gesindel“ vorzugehen, das nach Rockkonzerten im Konzilgebäude im Stadtgarten rumgammle. Am 29. August erschoss ein Angetrunkener einen siebzehnjährigen Tankstellenlehrling am Blätzlebubenbrunnen in der Innenstadt mit einem Hasentöter.

Der NPD-Mann, der zu Gewalt gegen Gammler aufgerufen hatte, wurde trotz einer Strafanzeige des DGB nie belangt, sass noch jahrelang im Gemeinderat und galt als heimlicher Strippenzieher der Stadtpolitik unter den wohlwollenden Augen des Oberbürgermeisters, der erst posthum der Bereicherung an jüdischem Vermögen während der NS-Zeit überführt wurde. Keine Gewalt in Nachkriegsdeutschland? Doch, sogar in seinem letzten Zipfel am See. Keine Republik der Braunen?

Mein akademischer Lehrer galt uns lange Zeit als ehedem schneidiger junger Hauptmann der Wehrmacht. Zum hochdekorierten Sturmbannführer der Waffen-SS und NS-Elitemenschen wurde er erst sehr viel später. Eisernes Kreuz 1. Klasse, Nahkampfspange, Deutsches Kreuz in Gold als einer von nur drei SS-Offizieren, jüngster Sturmbannführer der Waffen-SS. Das schmerzt und verwirrt mich bis heute, denn er hegte auf eine etwas linkische Art Zuneigung zu mir, so oft er mich auch provozierte, vielleicht weil ich schrieb, was ihm, dem Philologen, eine fremde Welt war.

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Reinhard machte sich in den Gärten der Hausbesitzer in der Gegend nützlich oder zumindest zu schaffen. Mitunter schlief Reinhard neben einem Rosenbeet ein. Neben sich eine leere Halbliterflasche Bier. Abends traf man ihn im „Blue Note“ oder einem anderen Lokal in der Stadt. Reinhard Stüdli war Appenzeller, verheiratet gewesen und früh nach Hamburg verreist. Nein, nicht Seemann geworden. Aber es wurde erzählt, und vielleicht war er selbst die Quelle dieser Erzählung, er habe sich in Westafrika in ein Kamel verliebt. Das habe ihn schliesslich auf den sicheren Heimweg gebracht. Du kannst mir sicher ein paar Lappen leihen, sagte Reinhard, als er entschlossen meine Wohnung betrat. Jetzt, wo du den Preis gekriegt hast.

Reinhard hat nie vorher oder nachher meine Wohnung betreten, und geblieben ist er auch nur so lange wie gerade nötig. An seinen Grabstein, wo immer er sich befindet, würde ich gerne einen Wimpel heften: achthundert Franken à fonds perdu für das freundlichste Kamel Westafrikas.

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Aber ich will von der Stadt erzählen. Nach dem Zusammenbruch der 68er-Euphorie, trotz der einsetzenden und fleissig geschürten Terroristen-Hysterie und dem wenige Jahre später folgenden Nachrüstungswahn, waren wir in der Stadt und in der Gegend bereits einigermassen angekommen.

Die Gentrifizierung der Altstadt hatte begonnen. Zur Freude der Ladenbesitzer, Café-Betreiber und Restaurant-Pächter. Die Stadtväter konnten den frisch verliehenen Titel „Universitätsstadt“ auf die Ortstafeln schreiben lassen ohne den Zusatz “Universitäts- und Puffstadt“, wie einige Witzbolde ein paar Jahre zuvor vorgeschlagen hatten. Wir verkehrten zusammen mit den Schauspielern, Dramaturgen, Regisseuren, Uni-Leuten und Nachtschwärmern nach wie vor im „Münsterhof“ …

besuchten im „Bermudadreieck“ auch die „Seekuh“, das „Föhn“- Café, das „Blue Note“ und weiter Richtung Schweiz das „Beese Miggle“, das erste genossenschaftlich betriebene Restaurant. Wenn dort Teeny bediente, bekam ich den bequemen ausrangierten Friseurstuhl an der Theke nahe der Wand. Da kann dich keiner von hinten erschiessen, sagte Teeny. Die Jungs und Mädels fanden unterdessen Jobs in der Stadt, wenn sie ihr Studium finanzieren mussten, unterbrochen oder ganz geschmissen hatten wie Teeny.

Eine Hausbesetzung (Am Fischmarkt, Anm.d.Red.) wurde nicht mehr dilettantisch mit Hurra, sondern strategisch angegangen. Waren der vorgesehene Abriss oder die Totalrenovierung und Umwidmung nicht abzuwenden, so hatte man doch einen zeitlich begrenzten Freiraum gewonnen und ein politisches Ausrufezeichen für die Zukunft gesetzt. In einem solchen leerstehenden Haus tagte eine Zeit lang auch die Redaktion des alternativen Monatsmagazins „Nebelhorn“. Ich hatte für die Zeitschrift eine kurze Geschichte zu einer der führenden Familien der Stadt geschrieben, deren männliche Mitglieder seit Jahrhunderten dem Rat der Stadt angehörten. Der vorletzte Spross, und mit diesem Hinweis hatte Peter, der Maler, meine Neugier geweckt, wurde nicht in die NSDAP aufgenommen, weil er, wie schon sein Grossvater, Freimaurer war. Kurz vor dem Einmarsch der Franzosen gründete er mit ein paar plötzlich Gleichgesinnten im April 1945 die antinazistische Widerstandszelle der Stadt.

A propos Widerstand. Als in den später siebziger Jahren eine Gedenktafel für Georg Elser, der ein paar Jahre hier gelebt, ein Attentat auf Hitler vorbereitet, 1938 an der Grenze verhaftet und in Berlin hingerichtet worden war, enthüllt werden sollte, wurde die Peinlichkeit am Vorabend noch knapp entdeckt. Die Einweihung musste verschoben werden. Der Steinmetz hatte „dem Wiederstandskämpfer“ in den Stein gemeisselt. Ein lapsus freudianus. Anders als jemanden, der „wieder stand“ konnte man sich einen solchen Menschen in der Stadt Jahrzehnte lang nicht vorstellen. Noch 1998 verteilte das städtische Kulturamt bei der Eröffnung des neuen Kulturzentrums beim Münster einen Lageplan mit den Stockwerken und Räumlichkeiten, auf dem in fetten Lettern „KZ Altstadt“ prangte. Kulturzentrum eben.

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Vor allem hatte ich für das „Nebelhorn“ während drei Jahren und drei Monaten monatliche Satiren auf Artikel der regionalen Monopolzeitung verfasst. Häufig auf die Leitartikel des Chefredakteurs, diesen „Grossmeister des Sprechblasenspätbarocks“, seine rückwärts gewandte Diktion, sein verblasenes Deutsch, seine mahnenden Zeigefingerworthülsen. Neben Fussballglossen für den Südwestfunk zählen diese literarischen Abfallprodukte für mich bis heute zu meinen glücklichsten journalistischen Erlebnissen.

Meine politischen Sprachglossen hatte ich stets mit dem Pseudonym „Sunny“ gezeichnet, das war während dieser drei Jahre nie aufgeflogen. In der Redaktion sorgten sie regelmässig für rote Köpfe. Da weder die Redakteure noch die bürgerlichen Gemeinderäte und die Sozis sich trauten, das „Nebelhorn“ offen auf ihre Schreibpulte oder die Tische im Ratsaal zu legen oder den „Sunny“ an einem anderen öffentlichen Ort zu lesen, wanderten die Kolumnen fotokopiert unter den Tischen und von Hand zu Hand. Als ich meine Satiren im Frühjahr 1986 einstellte, sah ich auch keinen Grund mehr, das Namensgeheimnis hinter dem Pseudonym zu wahren …

Jochen Kelter

Lesungstermine: 24.10. in Konstanz, Foyer Spiegelhalle, 20 Uhr. Dabei wird Kelter auch aus seinem neuen Gedichtband „Wie eine Feder übern Himmel“ lesen. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 4 Euro. 26.10. Meersburg, Rotes Haus am Schlossplatz (Kunstgalerie des Bodenseekreises), 18 Uhr.

„Jetzt mache ich einen Satz“ / Ein fast aussichtsloser Versuch über die gelöschte Vergangenheit. Kleine Oberrheinische Bibliothek. ISBN 978-3-7448-5456-6