Kulturstiftung des Kantons Thurgau: Am Scheideweg
Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau kann im nächsten Jahr auf dreißig Jahre ihrer Existenz in der heutigen Form zurückblicken. Da liegt die Idee natürlich nahe, das Bisherige zu evaluieren und Neues auszuprobieren. Deshalb hat die Kulturstiftung ein neues Format der Kulturförderung lanciert: „Ratartouille“. Dieses neue Projekt der Kulturstiftung klingt nicht nur so, sondern liegt tatsächlich im zeitgeistigen Trend zu Performance statt Tiefgang, kritisiert unser Autor Jochen Kelter.
Zuerst einmal sticht bei der Neuausrichtung der kantonalen Kulturförderung ins Auge, was alles es in Zukunft nicht mehr geben soll. Es sind nämlich gleich drei Förderungsinstrumente, die über Bord geworfen werden.
1. Die alle drei Jahre stattfindende Werkschau Thurgauer Künstler (die erste fand 2013, die nun wohl letzte 2019 statt). Auf solche Ausstellungen, die ja häufig Allerweltscharakter haben, kann wohl verzichtet werden, stünde ein adäquates neues Instrument der Kunstförderung zur Verfügung.
2. Tanz. Der Tanz und mit ihm seine Förderung haben sich hierzulande von Beginn an schwergetan. Vielleicht müsste zu seiner Förderung ein größerer regionaler Rahmen gefunden werden.
3. Die Frauenfelder Lyriktage. Sie gehörten seit Gründung der Kulturstiftung zu den national ausstrahlenden „Leuchttürmen“ der Stiftung. Sie waren das erste internationale Poesiefestival der Schweiz überhaupt und stießen auf große mediale und Publikumsresonanz. Die ließ mit den Jahren nach, weil Literaturtage und Festivals allüberall und noch im letzten Krachen wie Pilze aus dem Boden schossen. Man ersetzte die Leitung, strich den alternativ stattfindenden Übersetzungsworkshop „Poeten übersetzen Poeten“ und setzte fortan ausschließlich auf regionale deutschsprachige Lyrik. Damit wurde das Problem indessen nicht behoben, im Gegenteil. Die Streichung der Lyriktage ist in einer Zeit, in der es seriöse Literatur und vorab Gedichte schwer haben, ein fatales Zeichen. Meine Meinung: Man hätte sich konsequent (aber durchaus mit Änderungen) auf die Ursprünge der Lyriktage zurückbesinnen sollen.
Wie es Euch gefällt
An die Stelle der genannten Formate soll also nun ein „Ratartouille“ genanntes Veranstaltungsformat treten. Das ist nicht so neu (und originell), wie es klingen soll. Auch andernorts wird auf Spartenübergreifendes gesetzt. Vor allem: Es wird überall auf Veranstaltungen gezielt, auf Spektakel und „Performance“, nicht aber auf die Schöpfung und Entstehung von neuen Kunstwerken aller Art. „Ansätze“, die „Kunst, Musik, Tanz, Literatur miteinander verbinden“, sollen gefördert werden. Die Branche scheint ganz versessen auf Aufführungen und Darbietungen, aber nicht auf die meist im stillen Kämmerlein stattfindenden Entstehungsprozesse dahinter. Dabei ist es doch ganz einfach: Bevor bildende Kunst und Tanz, Literatur und Musik sich (vielleicht) miteinander verbinden, müssen sie zuerst entstehen.
Darauf, dass in der Verballhornung des französischen Gemüsegerichts auch noch das Wort „Art“ steckt, muss man erst einmal kommen. „Ratartouille“ kommt mir vor wie die schöne französische Redensart, die ins Deutsche übersetzt etwa lauten würde: Egal was, Hauptsache mit System präsentiert. Und die Durchführung des Projekts hat bereits System. Ende Mai 2021 „wählt“ eine Jury aus fünf Experten „maximal drei Bewerbungen aus“.
Allein für diese erste Phase der Ausarbeitung der Projekte stehen je 5.000 CHF zur Verfügung (für diese Summe könnte ein/e Autor/in, ein/e Musiker/in oder Künstlerin einen Monat oder länger an einem Werk arbeiten). Für das auserwählte Projekt werden dann 100.000 CHF zur Verfügung stehen. Da wird also wahrlich nicht gekleckert. Anfang Juli soll dann über den endgültigen Preisträger entschieden werden. Und zwar durch das Publikum, das heißt, jeden und jede, die oder der teilnehmen möchte. Das scheint mir eine populistische und anbiedernd pseudodemokratische Veranstaltung zu werden. Wofür hat denn die Kulturstiftung vorher überhaupt ein Gremium von fünf Experten/innen eingesetzt (und bezahlt?).
Unterhaltung statt Kunst?
Das neue Projekt der Kulturstiftung liegt im zeitgeistigen Trend. Performance statt Produktion. Oberfläche statt Tiefgang. Woher sollen denn die Aufführungen kommen, wenn nicht aus vorher Erarbeitetem und Geschaffenem?
Dazu fällt mir zum Schluss eine Anekdote ein. Als ich vor zwei oder drei Jahren die damalige Leiterin der Kulturstiftung fragte, ob man das von ihr aus der Taufe gehobene, gut dotierte Künstlerstipendium in Belgrad (!) nicht vielleicht von sechs Monaten auf vielleicht zwei oder drei Monate beschränken könne – ich kenne zwar Belgrad, könne mir aber einen so langen Aufenthalt dort weder vorstellen noch leisten –, lautete die Antwort, die Künstler/innen müssten dort erst einmal eine Zeitlang „networken“. Ich Schaf hatte mir doch tatsächlich eingebildet, sie würden in Belgrad an einem Werk arbeiten und nicht an ihm „networken“. Aber welche Künstlerin, welcher Autor hätte es in der Vergangenheit ganz ohne öffentlich gefördertes „Networking“ nicht geschafft, bei Bedarf für die Vertonung eines Textes oder für den Text zu einer Musik eine/n Partner/in zu finden?
Jochen Kelter (Bild: marsrot; zu sehen ist das von der Stiftung geförderte Literaturhaus Thurgau, Bodmanhaus Gottlieben)