Lang verzögert: Mahnmal und Dauerausstellung zur NS-Justiz im Stuttgarter Landgericht
Mindestens 423 von der NS-Justiz gefällte Todesurteile wurden zwischen Oktober 1933 und August 1944 im Stuttgarter Justizgebäude vollstreckt. 402 Männer und 21 Frauen starben dort unter dem Fallbeil. Über 30 Jahre lang blieb die Forderung nach einer angemessenen Gedenkstätte erfolglos. Seit Ende Januar 2019 wird nun endlich an die im Namen des deutschen Volkes begangenen Verbrechen vor und im Landgericht Stuttgart erinnert. Ein erster Schritt in die richtige Richtung.
In dem Dokumentarfilm „Im Namen des gesunden Volksempfinden“, den Peter Ohlendorf und Holger Reile 1989 für den SWR drehten, steht der Verwaltungsrichter Fritz Endemann auf dem Parkplatz hinter dem Stuttgarter Landgericht. Dort, wo sich früher im nördlichen Lichthof des alten Justizgebäudes die Hinrichtungsstätte mit der Guillotine befand. „Ich bin überzeugt davon, dass die meisten, die in diesem Gebäude arbeiten, nicht wissen, was hier geschah, ein Mahnmal, eine Gedenkstätte fehlt bisher.“
Seit Ende Januar dieses Jahres stehen nun drei Stelen auf dem Platz vor dem Eingang zum Landgericht in der Urbanstraße, auf denen die Namen jener Frauen und Männer gelistet sind, die dort hingerichtet wurden.
423 Frauen und Männer starben unter der Guillotine …
Die Stuttgarter Hinrichtungsstätte gehörte zu den größeren ihrer Art, war 1937 durch das Reichsjustizministerium zur zentralen Hinrichtungsstätte im deutschen Südwesten bestimmt worden. Die 423 Frauen und Männer, deren Namen, Alter, Beruf, zur Last gelegtes Delikt, verurteilendes Gericht und das Datum der Hinrichtung auf den Stelen aufgeführt sind, wurden von Schwurgerichten und Strafkammern, von Strafsenaten des Oberlandesgerichts Stuttgart, von Sondergerichten, vom Volksgerichtshof und von Militärgerichten auch im von den Nazis besetzten Frankreich zum Tode verurteilt.
Allein das Sondergericht Stuttgart verhängte 140 Todesstrafen, von denen 122 Todesurteile in Stuttgart und (nach der Zerstörung der dortigen Hinrichtungsstätte) in Bruchsal vollstreckt wurden. Rund hundert von ihnen verantwortete Hermann Cuhorst, ab November 1934 Senatspräsident des Oberlandesgerichts Stuttgart und von Oktober 1937 bis November 1944 Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart. Die übrigen Todesurteile fällten seine Stellvertreter Alfred Bohn, Adolf Payer, Max Hegele, Erwin Eckert, Max Stuber und Hermann Azesdorfer.
Justizieller Willkürherrschaft war mit einer Reihe von Strafgesetzänderungen und neuen Rechtsverordnungen der Weg bereitet worden. So wurde am 28. Juni 1935 der Rechtsbegriff des „gesunden Volksempfindens“ in das Strafgesetzbuch eingeführt. In § 2 hieß es nun: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient.“ Und ab November 1938 konnte aufgrund einer neuen Verordnung „die Staatsanwaltschaft Anklage vor dem Sondergericht erheben, wenn sie der Auffassung war, dass mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat oder die in der Öffentlichkeit hervorgerufene Erregung die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht geboten ist.“ Mit Beginn des Krieges kamen weitere neu geschaffene Tatbestände hinzu.
Der Schwerpunkt der über 3000 Verfahren, die das Sondergericht Stuttgart abhandelte, lag anfangs bei der Verfolgung von politischem Widerstand, worunter die Zugehörigkeit zu verbotenen Parteien und Organisationen wie auch die Verbreitung von Flugblättern – die Grundrechte der Meinungs- und Informationsfreiheit waren bereits Ende Februar 1933 „zum Schutz von Volk und Vaterland“ außer Kraft gesetzt worden – fielen. Als „Volksschädling“ oder „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ verurteilte das Sondergericht später auch zahlreiche Angeklagte zum Tode, die wegen Diebstahl, Betrug oder Schwarzhandel angeklagt waren.
Viele der Prozessunterlagen sollen der Bombardierung des Justizgebäudes am 12. September 1944 zum Opfer gefallen, andere noch kurz vor Ende des Krieges geschreddert worden sein. Unter den Akten verschiedener Archive, die für die nun eingerichtete Dauerausstellung genutzt wurden, stellen makabererweise – als eine Art zentrale Hinrichtungskartei – die Vergütungsnachweise des jeweils aus München angereisten Scharfrichters Johann Reichhart die umfangreichste Opferquelle dar: Schließlich galt es, dessen Fahrtkosten akkurat abzurechnen.
… darunter viele aktive Nazi-GegnerInnen
Einer der Männer, die wegen Widerstands gegen die NS-Gewaltherrschaft im Lichthof des Stuttgarter Justizgebäudes ermordet wurden, war der Antifaschist Georg Viktor Kunz. Vom Volksgerichtshof verurteilt, wurde er am 17. August 1943 hingerichtet. Unter diesem Datum steht nun auf den Gedenkstelen vor dem Landgericht: „Georg Viktor Kunz 57 Rolladenmonteur Politisches Delikt Volksgerichtshof“. Dass wir mehr über ihn wissen, seine Geschichte kennen, ist seiner Urenkelin Carmen Eckhardt zu verdanken. Die Dokumentarfilmerin hat fast vier Jahre lang recherchiert und die Geschichte ihres Urgroßvaters aufgearbeitet. Ihr beeindruckender Film „Viktors Kopf“ führt durch deutsche Amtsstuben und Gerichte, in Archive und Museen, in ein Anatomisches Institut und zum Tübinger Gräberfeld X, wo Georg Viktor Kunz verscharrt wurde.
Dass die Hinrichtungen von 19 Mitgliedern der Widerstandsgruppe um Georg Lechleiter aus Mannheim, die die KPD-Untergrundzeitung „Der Vorbote“ herausgab, nicht in Vergessenheit gerieten, ist vor allem der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) zu verdanken, die die Erinnerung an diese Frauen und Männer auch heute noch wachhält. Nach der Verkündung des Todesurteils für 14 Angehörige der Lechleiter-Gruppe am 15. Mai 1942 durch den Volksgerichtshof in Mannheim wurden die Verfahren gegen weniger belastete Mitglieder der Gruppe abgetrennt und an das Sondergericht Freiburg und den Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart übergeben. Auf Grundlage von unter Folter erpresster Geständnisse der bereits am 15. September 1942 hingerichteten Mitglieder der Gruppe wurden in Stuttgart unter dem Vorsitz von Hermann Cuhorst auch Henriette Wagner, Bruno Rüffer, Ludwig Neidschwander, Richard Jatzek und Albert Fritz zum Tode verurteilt.
Über in Stuttgart hingerichtete französische Widerstandskämpfer hätten wir wohl nie etwas erfahren, wenn sich nicht Brigitte und Gerhard Brändle auf intensive Spurensuche begeben hätten: Ihre Recherchen liegen den in der Wochenzeitung Kontext erschienenen Artikeln über acht am 1. und 29. Juni 1943 ermordete Mitglieder einer Résistance-Gruppe aus dem südlichen Elsass und weitere acht Résistance-Kämpfer aus Dijon, in Stuttgart hingerichtet am 19. April 1944, zugrunde.
Ihre Unterlagen, Fotos und Dokumente haben Brigitte und Gerhard Brändle dem Justizministerium des Landes Baden-Württemberg, der Präsidentin des OLG Stuttgart und dem Haus der Geschichte für die Ausstellung übergeben. Um die notwendige Erinnerung an Menschen, die nicht namenlose Opfer, sondern aktive Kämpfer gegen den Faschismus waren, wachzuhalten.
Über viele andere Menschen, die in Stuttgart hingerichtet wurden, liegen dagegen kaum weiterführende Informationen vor. Was sich dringend ändern sollte.
Kein beteiligter Jurist wurde von einem deutschen Gericht verurteilt
Für Hermann Cuhorst (1899-1991), berüchtigt für auf dem Weg zum Sitzungssaal getätigte Aussagen à la „na, heute haben wir nur drei Fälle, das muss mindestens 2 Köpfe geben“ oder „den dritten Fall machen wir ganz kurz fertig, das Schwein leugnet auch noch, man sollte sich überhaupt keine Arbeit mit solch einem Gesindel machen“ oder „es geht auf zum fröhlichen Jagen“, fand sich nach dem Krieg kein Kollege, der bereit war, ihm einen Persilschein auszustellen. Ganz im Gegenteil: Nachdem er im Nürnberger Juristenprozess 1947 wegen formaler Gründe aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden war, schlugen die Wogen hoch. Der vehemente Ruf nach seiner Verurteilung führte zu seiner erneuten Verhaftung: Im Entnazifizierungsverfahren im Oktober 1948 stufte ihn die Spruchkammer V von Stuttgart-Bad Cannstatt auf Basis des von den Alliierten erlassenen Kontrollratsgesetzes Nr. 10 in die Gruppe der „Hauptschuldigen“ ein und verurteilte ihn zu vier Jahren und drei Monaten Arbeitslager, weitgehender Vermögenseinziehung und erlegte ihm Berufsbeschränkungen auf.
Mit dem Schiedsspruch gegen Cuhorst war der Verantwortliche für die gesamte Stuttgarter NS-Justiz ausgemacht und seine ehemaligen Kollegen sicher nicht unglücklich darüber, ihm als Sündenbock die Alleinschuld anzulasten: Keiner von ihnen wurde jemals zur Rechenschaft gezogen.
Wer nicht aus Altersgründen ohnehin ausschied, wurde meist wieder in den Justizdienst eingestellt und bekleidete hohe Ämter in Baden-Württemberg. Wie Alfred Bohn (1888-1966), als stellvertretender Vorsitzender des Sondergerichts verantwortlich für mindestens 15 Todesurteile, der dank vieler Persilscheine als „nicht belastet“ eingestuft und wieder als Staatsanwalt tätig wurde. Wie Erwin Eckert (1897-1966), als stellvertretender Vorsitzender des Sondergerichts verantwortlich für mindestens ein Todesurteil, als Beisitzer an über 18 Todesurteilen beteiligt, der bis zum Landgerichtsdirektor aufstieg. Als Landgerichtsdirektor ging auch Adolf Payer (1896-1983) in Pension, der als stellvertretender Vorsitzender des Sondergerichts verantwortlich für mindestens sieben Todesurteile und als Beisitzer an über 18 Todesurteilen beteiligt war. Um hier nur einige wenige Beispiele anzuführen.
Weder ihr meist sehr früher Eintritt in die NSDAP noch ihre stramme Linientreue zum NS-Regime – kritische Juristen wie etwa der junge sozialdemokratische Amtsrichter Fritz Bauer, am 23. März 1933 verhaftet und im KZ Heuberg inhaftiert, waren ohnehin früh aus ihren Ämtern entfernt, entrechtet und verfolgt worden – verhinderten ihre Nachkriegskarrieren in Baden-Württemberg.
Dass es auch anders ging, dass die Personalpolitik der Länder Einfluss auf die Wiedereinstellungspraxis belasteter Juristen nehmen konnte, belegt das Beispiel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main: Unter dem ersten hessischen Justizminister Georg August Zinn hatten 31 der insgesamt 51 Richter, die in den ersten vier Jahren bis 1949 zum Einsatz kamen, selbst politische oder rassistische Verfolgung erlebt. Keiner der in dieser Zeit an das Oberlandesgericht berufenen Richter war vorher Mitglied der NSDAP, keiner von ihnen war in Spruchkammerverfahren als Minderbelasteter oder Mitläufer entnazifiziert worden. Es hing demnach auch vom politischen Willen ab, wie hoch die Quote der Amtskontinuität ausfiel: In Stuttgart lag sie bei über 80 Prozent, in Frankfurt am Main dagegen bei circa 50 Prozent*.
Verschleppte Aufarbeitung im Land von Kiesinger und Filbinger
Es verwundert nicht sonderlich, dass im Land Kurt-Georg Kiesingers, auch er Jurist und bereits im Februar 1933 in die NSDAP eingetreten, und des ehemaligen Marinerichters Hans Filbinger („Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein!“), dem auch sein Nachfolger Günther Oettinger noch 2007 bescheinigte, sich lediglich den damaligen Zwängen gebeugt zu haben, eine Aufarbeitung der NS-Justiz zunächst verhindert und danach lange verschleppt wurde. Alle Versuche, durch Strafanzeigen Prozesse gegen ehemalige Sonderrichter zu erzwingen, scheiterten. 1960 stellte Ministerpräsident Kiesinger klar, dass weder die Mitgliedschaft beim Volksgerichtshof oder Sondergerichten noch die Mitwirkung an Todesurteilen Anlass zu strafrechtlichen Ermittlungen oder dienstrechtlichen Maßnahmen gegen Richter und Beamte geben dürfe.
Es bedurfte jahrzehntelanger Bemühungen, die Justiz des Landes zur Aufarbeitung ihrer Vergangenheit zu bewegen. Der Verwaltungsrichter Fritz Endemann, der seit Ende der 1980er-Jahre die Errichtung eines Gedenkorts „als Erinnerung an die Opfer und als Mahnung an uns Richter, uns auch unter veränderten Umständen nicht mehr verstricken zu lassen in Unmenschlichkeit und Unrecht“ gefordert hatte, stieß mit diesem immer wieder vorgebrachten Anliegen auf wenig Gehör.
Im Jahr 1994 wurde schließlich links von der Treppe zum Vorplatz des Landgerichts eine unauffällige Inschrift in die Mauer eingelassen: „Den Opfern der Justiz im Nationalsozialismus zum Gedenken – Hunderte wurden hier im Innenhof hingerichtet – Den Lebenden zur Mahnung.“ Sehr unauffällig, leicht zu übersehen und inhaltlich wenig aussagekräftig.
Aber Endemann bewies – allen Widerständen zum Trotz – langen Atem. Nachdem mit dem ehemaligen stellvertretenden Landtagspräsident Alfred Geisel Verstärkung gewonnen werden konnte, konkretisierten sich im Jahr 2013 Pläne für eine Dauerausstellung. Und kaum sind weitere sechs Jahre vergangen, konnte diese Ausstellung Ende Januar 2019 eröffnet werden.
Ausstellung „NS-Justiz in Stuttgart“
„NS-Justiz in Stuttgart“ wurde als Gemeinschaftsprojekt mit dem Oberlandesgericht und dem Landgericht Stuttgart vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg konzipiert und realisiert.
Das Foyer des 1. Obergeschosses des Landgerichts ist der Geschichte des im September 1944 zerstörten Justizgebäudes und der Entrechtung, Vertreibung und Verfolgung jüdischer JuristInnen im Landgerichtsbezirk Stuttgart gewidmet.
An den Wänden vor den Sitzungssälen 153 bis 156 wird anhand von Beispielen in Stuttgart praktizierte nationalsozialistische Strafjustiz dokumentiert. Biografien von Richtern und Staatsanwälten, die an Todesurteilen mitgewirkt haben, werden dort vorgestellt, oft auch ihre jeweiligen fadenscheinigen Rechtfertigungen vor den Spruchkammern, mit denen sie sich reinzuwaschen versuchten.
Die Ausstellung ist sehenswert und zu empfehlen. Sie liefert zusammen mit dem Ausstellungskatalog viele wichtige, einer breiten Öffentlichkeit sonst nicht zugängliche Informationen. Sie weckt darüberhinaus aber auch Neugier und vor allem den Wunsch, mehr wissen zu wollen über die Geschichte(n) der Frauen und Männer, die den furchtbaren Stuttgarter Juristen zum Opfer gefallen sind.
Es bleibt somit noch viel zu tun bei der Aufarbeitung der NS-Justiz in Stuttgart. Wie auch bei der in ganz Baden-Württemberg.
Sabine Bade (Text und Fotos)
* Die Zahlen sind dem im November 2018 erschienenen Artikel „Brüche und Kontinuitäten beim Wiederaufbau der Justiz“ von Georg D. Falk, Vorsitzender Richter am OLG Frankfurt/M a.D., entnommen, In: Informationen – Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933-1945, Heft 88, S. 19-23.
Führungen und Katalog
Die Dauerausstellung im Landgericht Stuttgart, Urbanstraße 20, kann Montag bis Freitag von 9 bis 18 Uhr besucht werden. Der Eintritt ist frei. Nach Voranmeldung (Telefon 0711/212-3989 oder besucherdienst@hdgbw.de) sind auch Führungen möglich.
Der 228 Seiten starke Katalog zur Ausstellung kann im Museums-Shop im nahen Haus der Geschichte in der Konrad-Adenauer-Straße 16 oder an der Pforte des Landgerichts zum Preis von 20 Euro erworben werden.
Ausstellungs-Flyer zum Download.